Unser kreatives Gehirn


Wie wir leben, lernen und arbeiten
von Dick Swaab
Rezension von Bernhard Moser | 14. November 2017

Unser kreatives Gehirn

Haben wir ein Gehirn oder sind wir ein Gehirn? Inwieweit sind unsere Talente, Eigenheiten und Gebrechen genetisch determiniert oder umweltbedingt? Um diese zeitlosen philosophischen Fragen zentriert der niederländische Neuro-Wissenschafter Dick Swaab die neuesten Erkenntnisse aus der Hirnforschung – komplettiert durch teils sehr persönliche und zum Widerspruch reizende Kommentare. Wie können wir Menschen (mit unserem Gehirn – Vorsicht Selbstbezüglichkeit!) unser wichtigstes Organ erkennen, verstehen und womöglich beeinflussen?

In kaleidoskopischer Lexikalität nähert sich Swaab ausgewählten Sujets, um das (Fehl-)Funktionieren unseres Gehirns zu veranschaulichen: Pränatal-Diagnostik, Spracherwerb, Bildungswesen, Pubertät, Genderidentität, Sucht, Diskriminierung, Kunstverständnis, Traum, Suizid, Euthanasie, Strafvollzug. Anschauungsbeispiele aus Kunst, Sport, Justiz, Militär und Medizin werden ebenso pointiert skizziert wie das überproportionale Psychopathentum in politischen und wirtschaftlichen Top-Positionen. Kenntnisreich werden „Norm“-Abweichungen seziert: Depression, Demenz, Down-Syndrom, Alzheimer, Schizophrenie, Parkinson. In und zwischen diesen manchmal eher lehrbuchhaft anmutenden Passagen scheut sich Swaab aber auch nicht, sich in Fragen wie Freier Wille, Zurechnungsfähigkeit von geistig abnormen Straftätern oder Sterbehilfe lautstark und teils provokativ in aktuelle gesellschaftspolitischen Diskurse einzumischen. In detailreichen Vergleichen von ethischen und kulturellen Mustern aus den Niederlanden und aus China, der zweiten universitären Heimat des Autors, werden kontroversielle Erkenntnisse gegenübergestellt. Bei zunehmender Lektüre kann es immer erstaunlicher erscheinen, dass aus dem ausgesprochen komplexen und fragilen Prozess der Hirnentwicklung doch relativ oft ein gut funktionierendes kreatives Gehirn hervorgeht (das dann imstande ist, das vorliegende Werk zu würdigen).

Die Stärke und Wucht dieses Wälzers liegt darin, die vielschichtige und vielfach noch im wissenschaftlichen Dunkel befindliche Materie kurzweilig und rasant auch für Laien häppchenweise zu portionieren und somit erfassbar aufzubereiten. Der völlige Verzicht auf Fußnoten, Formeln und Tabellen trägt zwar zur leichteren Lesbarkeit bei, gleichzeitig wird aber der Lesefluss durch ein manchmal gar zu unmotiviertes Nebeneinander von Fließtext, andersfarbigem Kolumnentext und ausufernden Bilduntertexten wieder gehemmt. Ebenso kritisch bleibt anzumerken, dass sich die Zuordnung von Abbildungen zum Text nicht immer logisch erschließt und dass die ins Register aufgenommene Personenauswahl unvollständig und willkürlich ausfällt. Ansonsten liegt ein von Gliederung, Layout und Lektorat her sehr ansprechendes und sorgfältig verarbeitetes Qualitätsprodukt vor, bei dem man allzu nachsichtig über winzige Unregelmäßigkeiten, wie den einen Buchstaben zu viel bei „Frederico Fellini“ (S. 117) oder den einen zu wenig bei „Alan Turin“ (S. 558), hinwegsieht.

Dieses Werk wird jene Leserinnen und Leser ansprechen, die sich in einfach verständlicher Form anhand von vielen Fallbeispielen und Bildern einen knappen Überblick über die aktuelle Hirnforschung machen wollen. Nicht erwartet werden dürfen letztgültige Klarheiten oder Rezepturen. So weist auch der Autor unumwunden immer wieder explizit darauf hin, dass wir über bestimmte Zusammenhänge entweder viel zu wenig oder überhaupt noch nichts wissen. Aufgrund des immensen Themenspektrums und der Kompaktheit der einzelnen Kapitel eignet sich dieses Kompendium auch hervorragend als Nachschlagewerk. Denn das Wissen über diese einzigartige Maschine namens Gehirn ist ein wirksames Mittel zur Beseitigung von Stigmata, Tabus, Vorurteilen und Verständnislosigkeit in unserer Gesellschaft.

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