Das verschollene Erbe der Wertheims


Die Geschichte meiner deutsch-jüdischen Familie
von Carlos Guilliard
Rezension von Elisabeth Binder | 25. März 2019

Das verschollene Erbe der Wertheims

Wie es sich für ein Buch, das sich mit einem Kapitel deutscher Geschichte beschäftigt, gehört, wird dem Werk ein Goethe-Zitat als Motto vorangeschickt. In diesem Fall, wo es ganz offensichtlich um ein Erbe geht: "Was du ererbt von deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen." (Faust 1) Was folgt, lässt sich allerdings am besten mit einem anderen bekannten Goethe Diktum aus dem West-östlichen Divan beantworten: "Getretener Quark wird breit, nicht stark."

Der Autor (besser eigentlich der Faktenlieferant) Carlos Guilliard, Jahrgang 1970, wächst ohne Vater auf. Der hat sich schon vor der Geburt von der Mutter getrennt und ist erst nach einem Abstammungsgutachten bereit, auch für den Unterhalt aufzukommen. Mit 30 Jahren, nachdem er im Leben einigermaßen Fuß gefasst hat, beginnt Guilliard sich für die Geschichte seines Vaters zu interessieren, vornehmlich allerdings für den reichen Erbonkel seines Vaters, dem in Spanien verstorbenen Carlos Vallin, dem er offensichtlich seinen Vornamen zu verdanken hatte. Erste Recherchen führen ihn in das Stadtarchiv Frankfurt, denn der Onkel wurde in Frankfurt geboren. Dort wird er mehr als fündig. Carlos Vallin wurde als Karl Wertheim als fünftes von zehn Kinder des Nähmaschinenfabrikanten Joseph Wertheim geboren. In einer schier übermenschlichen Leistung reimt sich Guilliard innerhalb einer Stunde die gesamte Familiengeschichte aus den Akten zusammen, die in "mehreren mannshohen Rollkontainern" (S. 12) daherkommen. Danach schließt das Stadtarchiv für den Tag. So weit so gut. Von da an lässt ihn die Geschichte nicht mehr los. Carlos Guilliard gelingt es, mit seiner Erbonkelgeschichte Kontakt zu weiteren Nachfahren herzustellen und an weitere Quellen zu gelangen. Bis ihm schließlich eine in New York lebende, betagte Nichte von Carlos Vallin kurz vor ihrem Tod mitteilt, dass der Erbonkel eigentlich sein Großvater sei. Ein paar Jahre nach dieser sensationellen Enthüllung, die im Übrigen durch keinerlei historisches Faktenmaterial abgesichert ist, trifft Guilliard auf die Journalistin Gundula Englisch, die so fasziniert von dieser abenteuerlichen Geschichte ist, dass sie sich gleich freiwillig als Ghostwriterin anbietet. Das Ergebnis ist das vorliegende Buch.

In vier Teilen wird also die Geschichte der Familie Wertheim, gut eingebettet in den jeweiligen historischen Kontext, erzählt. Der erste Teil widmet sich dem gelernten Mechaniker Joseph Wertheim, der sich 1854 von Rotenberg an der Fulda mit nicht ganz zwanzig Jahren nach Amerika auswandert. Dort sieht er Chancen mit dem erlernten Handwerk mehr zu erreichen und vor allem auch dem schwelenden und auch immer wieder offenen, gewalttätigen Antisemitismus zu entfliehen. Im zweiten Teil wird die Erfolgsgeschichte Wertheims erzählt, der nach fünf Jahren Amerika wieder nach Deutschland zurückkehrt und dort zunächst aus Amerika importierte Nähmaschinen verkauft und schließlich selbst zum Pionier der deutschen Nähmaschinenproduktion wird. Geheiratet wird in diesem Teil auch noch und in kürzester Zeit gibt es auch eine zehnköpfige Kinderschar. Kurz vor seinem Tod regelt Wertheim sein inzwischen angewachsenes Erbe sehr genau und im Sinne des Werterhalts dessen, was er selbst aufgebaut hat. An dieser Stelle ist also noch nichts verschollen. Der nächste Teil widmet sich dann den Kindern und Enkeln des Gründers und reicht zeitlich bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Kurz nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Nähmaschinenfabrik aus dem industriell darniederliegenden Deutschland nach Barcelona verlegt, wo Karl Wertheim, später Carlos Vallin, bereits seit längerer Zeit tätig war. Hier wurde zumindest ein Teil des Erbes weiter ausgebaut und hat offensichtlich in der einen oder anderen Form auch den Spanischen Bürgerkrieg und den zweiten Weltkrieg überlebt. In diesem Teil erfährt man auch, dass der spätere Erzeuger des "Autors" eigentlich nicht der Neffe, sondern der Sohn von Carlos Vallin war, angeblich das Ergebnis einer kurzen Liaison mit der verheirateten Schwester seiner Haushälterin, die er kurz darauf ehelichte. Im letzten Teil schließlich geht es dann um das titelgebende "verschollene Erbe". Damit ist jetzt tatsächlich das viele Geld gemeint, das den Weg nicht zum präsumtiven Erben gefunden hat - bezogen auf das erhabene Motto also ein "Fack ju Göhte"-Moment.

Zwischen den Teilen schaltet sich der nominelle Autor als Ich-Erzähler ein und versucht der vorangegangenen Fiktion mit Betrachtungen aus seiner jahrelangen Recherchetätigkeit faktisches Gewicht zu verleihen. Das führt auch zur Frage nach der Quellenlage. Insgesamt werden 23 Bücher und Artikel angeführt, ein paar Archive und persönliche Dokumente aus dem Familienumfeld der Wertheims. Dabei fällt auf, dass die sensationellsten Enthüllungen nur auf Hörensagen beruhen. Ergänzt wird die Historie durch 16 Seiten Bildmaterial auf Hochglanzpapier, bestehend aus Familienfotos und Auszügen aus dem Produktkatalog der Firma Wertheim. Das Ganze hinterlässt eher den Eindruck von Zufälligkeit. Unter anderem findet sich unter den vier Bildern des Vaters des Autors ein Porträt in Wehrmachtsuniform. Auch hier fehlen, kaum überraschend, die Quellenangaben.

"Das verschollene Erbe der Wertheims" liest sich wie ein mittelmäßiges Drehbuch zu einer TV Geschichtsdokumentation, die mit eingestreuten Spielszenen die Lücken in den historischen Quellen zukleistert.

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