Mid-Century Vienna


Auf den Spuren des Aufbruchs - An Archeology of a Bygone Era
von Tom Koch, Stefan Doleschal (Fotograf*in)
Rezension von Michael Seirer | 08. Februar 2023

Mid-Century Vienna

Was haben eine Gruft, ein Wasserreservoir und eine Hochschaubahn gemeinsam? Auf den ersten Blick nicht viel. Es geht um die Neue Gruft von Karl Schwanzer, die Wasserspeicher der 1. Wiener Hochquellenleitung und die Zwergerlbahn im Prater. Jetzt offenbart sich, dass alle genannten Objekte um die Mitte des 20. Jahrhunderts entstanden sind. Es herrschte optimische Aufbruchstimmung, die Mittel des Marshallplans (offiziell das European Recovery Program) ermöglichten eine Vielzahl von Bauten im aufblühenden Wien. Der Autor Tom Koch hat sich gemeinsam mit dem Fotografen Stefan Doleschal aufgemacht, um die manigfaltigen Spuren dieser vergangenen Periode aufzuspüren und zu dokumentieren.

Das in der Anfangszeit von Corona entstandene Werk arbeitet die Bauwerke allerdings nicht chronologisch ab sondern sortiert sie thematisch ein. Dies ermöglicht ergänzend zu den direkten Informationen zu den besprochenen Objekten übergreifende Texte, die den herrschenden Zeitgeist einfangen und (wieder-)erlebbar machen. Der Rezensent als Nicht-Zeitzeuge konnte die wieder aufkeimende Lebensfreude, den Stolz und Erneuerungswillen der Wiener Bevölkerung beim Lesen deutlich spüren.
Alle Texte sind in Deutsch und in Englisch ausgeführt.

"Von der Notwohnung zur durchgrünten Stadt", "Ordentlich und schön", "In der Freizeit", "Irgendwo war immer etwas los" - schon die Kapitelnamen versprechen ein vielschichtiges Bild von Wien im Aufbruch. Es fesselt mit interessanten Details zur Entwicklung des Individual- und des öffentlichen Verkehrs: so stieg die Anzahl der Kraftfahrzeuge in Wien von 60.000 im Jahr 1950 auf knapp 250.000 im Jahr 1960. Fußgänger mussten bei dieser rasanten Entwicklung dem rollenden Verkehr weichen: Der Bau von unterirdischen Passagen, wie 1954 die Opernpassage oder 1961 die Schottenpassage (das sogenannte "Jonasreindl") wurden forciert. Zu sehen ist auch ein Foto vom Stephansplatz - voll mit im Stau steckenden Autos. Heutzutage undenkbar.
Aber auch witzige Entwicklungen, wie der Abschnitt über Waagen im öffentlichen Bereich - scheinbar ein Wiener Spezifikum.

Nicht nur Außenaufnahmen werden im Buch gezeigt. Fotos von anno dazumal und aktuelle Fotografien liefern spannende Einblicke in das damals angesagte Interior Design. Beschrieben wird zum Beispiel von dem Programm "Soziale Wohnkultur", das ab 1952 von der Gemeinde Wien, dem Österreichischen Gewerkschaftsbund (Gewerkschaft Bau-Holz), der Handelskammer und der Kammer für Arbeiter und Angestellte realisiert wurde. Es bot formschöne Inneneinrichtung zu erschwinglichen Preisen. Die gezeigten Prospekte beinhalteten natürlich Preislisten in Schilling.

Ein ebenfalls kaum bekanntes Projekt der Stadt Wien: Der Bau der "Wassersparbüchse" (Spitzname von Bürgermeister Jonas in einem Artikel verwendet). Vier riesige geschlossene Wasserspeicher auf halbem Weg der 1. Hochquellwasserleitung nach Wien.

Über 450 Fotografien zeigen in gelungenem Layout - mal in großformatigen Darstellungen (auch ganze Doppelseiten einnehmend), mal in Gegenüberstellungen von historischen und aktuellen Fotografien die oft geringen Unterschiede von damals und heute.

Besprochen werden die Errichtung des Atominstitut, die Sendeanlage am Bisamberg, die Dekorationswerkstätten der Bundestheater, das WIFO (zwar mit Ende 1969 außerhalb des Betrachtungszeitraum des Buches, aber öffentlich nur in Teilen zugänglich und vieles noch im Original erhalten: beispielsweise der wunderbare Sitzungssaal in dem nur ein kleiner Beamer an der Decke auf moderne Zeiten hinweist), das 20er Haus (Museum des 20. Jahrhunderts von Karl Schwanzer), der Ringturm, das Café Prückel, das Filmcasino und viele mehr.

Die vorgestellten Orte, Bauwerke und Räumlichkeiten existieren immer noch - wirken nach. Klar, die farbigen Mosaike an Wohnhauswänden oder Spielplätzen waren im damals visuell wesentlich weniger überfrachteten Stadtbild wohl noch viel auffälliger. Trotzdem sind 70 Jahre vergangen und sie haben nichts von ihrem Charme verloren. Im Gegenteil: Mid-Century Design für Möbel und Accessoires erleben aktuell geradezu einen Boom.

"Mid-Century Vienna" ist ein wunderbares Buch, das dazu einlädt, Wien mit neuen Augen zu betrachten. Die zurückhaltende, von Ökonomie getriebene Formensprache übt einen ungebrochenen Reiz auf den Betrachter aus. Nicht alle Orte sind öffentlich zugänglich, die meisten jedoch schon. Einfach mal mit der Bim bisher nicht beachtete Gebäude besuchen und dabei neues (altes!) über die jüngere Geschichte der Bundeshauptstadt lernen.

Details

Bewertung

  • Gesamt:
  • Anspruch:

Könnte Ihnen auch gefallen: