Es lebe der Widerspruch!


Fotos aus 40 Jahren Falter, 1977-2017
von Armin Thurnher (Hrsg.)
Rezension von Michael Seirer | 27. Januar 2023

Es lebe der Widerspruch!

Bereits 2017 feierte die Wochenzeitung Falter ihr 40-jähriges Jubiläum: 1977 erschien die erste Ausgabe, damals noch mit wenigen Seiten.
Aus Platzgründen wäre das Falter-Archiv, das sich in unzähligen Schachteln und Mappen befand, beinahe aufgelöst worden. Florian Klenk protestierte und gemeinsam mit Susanne Winkler und Werner Michael Schwarz vom Wien Museum wurde das Material gesichtet und eine Auswahl für die Ausstellung "Es lebe der Widerspruch! Fotos aus dem Falter-Archiv" zusammengestellt. Zu ebendieser Ausstellung, welche 600 Fotos von mehr als 30 FotografInnen umfasste, entstand auch das Begleitbuch.

Das Buch selbst ist, den Kapitelüberschriften folgend, chronologisch aufgebaut, widmet sich aber jeweils unterschiedlichen Schwerpunkten und zeigt eine alternative Seite der Stadt und ihrer Entwicklung. Es verstand sich weniger als käufliches Produkt, sondern vielmehr als Plattform der Kommunikation und des Miteinanders. Bewusst wurde ein Gegenpol zur "Hochkultur" geschaffen. Anfangs noch von jungen Studierenden, die keine klare Aufgabenbeschreibung kannten und wollten.

Am Ende des Buchs findet sich ein hochspannendes Gespräch mit sechs Fotograf*innen des Falter, die in etwa die unterschiedlichen Jahrzehnte der Wochenzeitung repräsentieren: Felicitas Kruse, Rainer Dempf, Christian Fischer, Heribert Corn, Christopher Mavrič und Katharina Gossow. Neben lustigen Anekdoten, wie die einzelnen zum Falter gekommen sind, geht es in der Diskussion auch um Entwicklungen wie die digitale Fotografie und die Veränderungen, die sie mit sich gebracht hat, oder auch darum, ob die Fotograf*innen früher mehr Einfluss auf die Auswahl der abgelieferten Fotos gehabt haben (sollten).

Fotografien waren schon immer ein wichtiger Bestandteil des Falters, allerdings weniger im klassischen Sinne der Pressefotografie, die auf maximale Verdichtung und den entscheidenden Moment setzt. Die Darstellungen zeigen eher partizipatorische Aktionen, Szenen, das Ganze und stehen damit gedanklich, weniger stilistisch, jedoch in der Tradition der sozialdokumentarischen Fotografie.
Neben diesen Fotografien "von innen" finden sich im Falter auch satirische und polemische Fotografien.

Das Buch zeigt in Kapiteln wie "1983 - 1987", "1999 - 2008" etc., wie sich der Falter im Laufe der Jahre immer professioneller positionierte, typografisch und layouttechnisch weiterentwickelte und wie 2002 die Farbfotografie und der digitale Umbruch Einzug hielten.

"Fotos in einer Zeitung sind wie Tiere in einem Käfig".
(Seite 9)

Beim Betrachten wird klar: Das Magazin emanzipiert sich von der ursprünglichen Wochenzeitung und spielt in einer eigenen Liga. Möglich wurde dies auch durch eine neue Zusammenstellung der Fotografien nach anderen Gesichtspunkten. Bemerkenswert sind etwa großformatige Doppelseiten (Christian Kern, Bundeskanzler und SPÖ-Vorsitzender beim ersten Falter-Interview oder Jörg Haider am Ulrichsberg), aber auch eine Doppelseite mit dem Titel "Als das Rauchen noch geholfen hat".

Auch das Verhältnis von Fotografen bzw. Fotografien zu Redakteuren und deren Texten wird immer wieder thematisiert. So gab es beispielsweise in den 1999-er Jahren ein von Chefredakteur Armin Thurnher ausgesprochenes Bilderverbot für Fotos von Jörg Haider - auch wenn diese eindeutig abwertend gemeint waren. Jahre später wurde es jedoch - wegen "Erfolglosigkeit" - wieder aufgehoben.

Die ausgewählten Fotografien wirken auf zwei Ebenen: Einerseits kann man sich an viele der abgebildeten Ereignisse noch erinnern (und sollte sie oft auch nicht vergessen), andererseits lösen sie beim Betrachter auch nach Jahrzehnten noch Emotionen aus.

Das liegt nicht zuletzt an der besonderen Qualität der Bilder: Heribert Corn etwa arbeitet oft mit angeschnittenen Köpfen, starken Ober- oder Untersichten und gewagten Kompositionen. Es ist ein besonderes Vergnügen diese Fotos zu betrachten.

Das gelungene Cover imitiert wohl eine Rigips-Wand, rau und erdig, und betont, unterstützt von der offenen Fadenheftung, inhaltlich die Anfänge des Falters.

"So ein Herumkasperln wie am Anfang spielts nicht mehr".
Heribert Corn (Seite 186)

Auffallend ist jedoch eine stilistische Veränderung, die sich 2002 im Falter vollzogen hat: der Umstieg auf digitale Fotografie und damit auch auf Farbfotografie. Im direkten Vergleich wirken die Farbversionen nicht so pointiert und lenken vom Thema ab, die geniale Schwarz-Weiß-Ästhetik ist unwiederbringlich verloren gegangen.

Heute ist der Falter mit einer Auflage von über 50.000 Exemplaren kein unbekanntes Blatt mehr. "Es lebe der Widerspruch!" ist ein gut gewählter Slogan für das Buch, aber auch für das Ausstellungsprojekt und die Entwicklung des Falters selbst. Wunderbar wird die Professionalisierung des Blattes über die Jahrzehnte nacherzählt und an wichtige zeitgeschichtliche Ereignisse erinnert. Immer dargestellt von wunderbaren Fotografien, die, befreit von der Dominanz der Spalten und des Textes, in neuen, assoziativen Layouts ein zweites Leben erhalten. Sehr empfehlenswert - nicht nur für politisch oder fotografisch Interessierte!

Details

  • Autor*in:
  • Verlag:
  • Sprache:
    Deutsch
  • Erschienen:
    05/2017
  • Umfang:
    208 Seiten
  • Typ:
    Hardcover
  • ISBN 13:
    9783854396055
  • Preis (D):
    34,90 €

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