Gute-Macht-Geschichten: Politische Propaganda und wie wir sie durchschauen können

von Daniel Baumann, Stephan Hebel
Rezension von Elisabeth Binder | 02. Mai 2016

Gute-Macht-Geschichten: Politische Propaganda und wie wir sie durchschauen können

Hier handelt es sich um ein Wörterbuch, also so ziemlich genau dem literarischen Genre-Gegenstück zu einem Geschichten- oder Märchenbuch, wie der Titel vermuten lässt. Von A wie "alternativlos" bis zu Z wie "Zinsenteignung" werden 64 Schlagwörter (und 10 dazu passende Synonyme) in zwei- bis vierseitigen Artikeln zu Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik abgehandelt. Das Themenfeld liegt auch nahe, die beide Autoren sind in ihrem Hauptberuf Journalisten für die Frankfurter Rundschau. Baumann ist Ressortleiter der Wirtschaftsredaktion, Hebel der Doyen der politischen Berichterstattung und mehrfacher Buchautor. 

Die einzelnen Artikel fallen grob in folgende Kategorien: Erläuterungen von Unwörtern und krassen Euphemismen, Begriffsumkehrungen, die den politischen Machtverhältnissen geschuldet sind, und die Aufklärung des einen oder anderen wirtschaftlichen Mythos mit anschaulichen Rechenbeispielen. Hinter allen sprachlichen Verrenkungen der politischen Akteure steht, sehr vereinfacht gesagt, die Erhaltung eines wirtschaftlichen Systems, das einen überproportional großen Teil des weltweiten Vermögens in den Händen weniger garantiert.

Dass Unwörter in dem Buch eine wichtige Rolle spielen, kommt nicht als Überraschung. Stephan Hebler ist seit Jahren festes Jurymitglied für die Wahl des "Unwort des Jahres". Lesenswert in diesem Zusammenhang sind die Artikel zu "Lohnzurückhaltung", "Arbeitsplatzbesitzer" oder "Zinsenteignung". Diese Begriffe sind Wortneuschöpfungen und daher leichter in ihrer propagandistischen Herkunft zu identifizieren, Euphemismen hingegen funktionieren subtiler. Folgt man den Autoren, so sind die Adjektive "reich" und "arm" aus dem politischen und journalistischen Vokabular zugunsten "sozial schwach" und "vermögend" fast vollständig verdrängt worden. Dieser Sprachgebrauch macht auch vor dem Duden nicht halt: im Online Duden führt "sozial schwach" die Beispiele für das Wort "sozial" an.

Der Spitzenreiter unter den Begriffsumkehrungen ist die "Reform", der bis ca. 1989 für über 200 Jahre "im Sinne eines friedlichen Weges zu vor allem sozialen Verbesserungen gebraucht, die - in Abgrenzung von der Revolution - ohne totale Umwälzung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse erreicht werden sollten" (S. 146). Danach richtet sich der Begriff in sein Gegenteil: er wird kaum noch mit   Verbesserung in Zusammenhang gebracht, sondern kommt meist im Zusammenhang mit "notwendig" oder "schmerzhaft" vor und dient der Austeritätspolitik (Duden: strenge Sparpolitik zur Verringerung der Staatsverschuldung). Und die wiederum setzt nicht bei den "Vermögenden" an...

Was die Rechenbeispiele betrifft, so ist es oft erstaunlich, dass einige der "heiligen Kühe" neoliberaler Wirtschaftspolitik mit einfachen Grundrechnungsarten geschlachtet werden können. Allen voran die "Autoindustrie", deren wirtschaftliche Leistung so hoch angesetzt wird, dass jede Verkühlung in Wolfsburg zu wirtschaftspolitischen Wahnwitzigkeiten wie der Abwrackprämie führen konnte. Ähnlich sieht es mit dem Schreckgespenst der "Kostenexplosion" in der Sozialpolitik aus.

Viele der Argumente sind interessierten LeserInnen nicht neu. Das in diesen Seiten besprochene Buch "Die dümmsten Sprüche aus Politik, Kultur und Wirtschaft: und wie sie gepflegt widersprechen" von Jens J. Korff verfolgte eine ähnliche Absicht, nämlich die - wie die Autoren in dem knappen Vorwort darlegen .- Dechiffrierung der politischen Alltagssprache. Sie schreiben damit auch ein Stück gegen ihre eigene Zunft an. Der journalistische Alltag unterliegt, wie sie ehrlich bekennen, denselben wirtschaftlichen Umständen und Zwängen. Da kommt es dann oft genug vor, dass die kritische Funktion des Journalismus verloren geht und sich der Sprachgebrauch politischer Propaganda langsam einschleicht.

Auch wenn sich die alphabetische Ordnung der Artikel zum Querlesen anbietet, kann das Buch mit Gewinn von vorne bis hinten gelesen werden. Es gibt nützliche Verweise zwischen und in den Artikeln und erstaunlich wenig Wiederholungen. Lediglich eine Zahl scheint den Autoren wichtig genug, dass sie an mehreren Stellen auftaucht, nämlich der Investitionsrückstau von 90 Milliarden Euro, der die "Rekordeinnahmen", den "Schlanken Staat" und die "Schwarze Null" in einem nicht so positiven Licht erscheinen lässt.

Die Analyse der Begriffe ist unaufgeregt und mit Belegstücken aus einer Vielzahl von Quellen mit mehr als 380 Fußnoten faktisch gut unterfüttert. Das bedeutet aber auf keinen Fall, dass es sich um trockene Abhandlungen handelt. Die Autoren stellen sehr deutlich klar, wo ihre Interessen und Sympathien liegen. Eine Literaturliste sowie ein Personen- und Sachregister hätten das Buch noch abgerundet und vor allem diejenigen LeserInnen unterstützt, die selbst noch weiter politische Märchenforschungen betreiben oder einfach einmal schnell einen Realitycheck der allgegenwärtigen politischen Rhetorik machen wollen. Wie man nach Lektüre dieses Buchs weiß, waren die Lautverschiebungen im Deutschen ein Kindergeburtstag gegenüber den wundersamen Bedeutungsverschiebungen der letzten 20 Jahre. 

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