Das Portrait in der Fotografie


150 Jahre Fotogeschichte in 250 Porträts
von Phillip Prodger
Rezension von Michael Seirer | 09. März 2023

Das Portrait in der Fotografie

Bereits ein Jahr nach der Erfindung der Fotografie entstand 1840 ein sehr eindrucksvolles Selbstporträt: Das Selbstporträt als Ertrunkener von Hippolyte Bayard. Warum richten Menschen das unerbittliche Objektiv der Kamera auf andere Menschen und auf sich selbst? Ist es die Suche nach der eigenen Identität? Das Festhalten flüchtiger Emotionen und des wahren Charakters der Person? Wie beeinflussen Modefotografie und Selfies unser Selbstbild? Phillip Prodger zeigt uns in "Das Porträt in der Fotografie" die vielfältigen Antworten von Fotograf*innen auf diese Fragen.

Zeitlich spannt das Buch einen Bogen von den Anfängen im 19. Jahrhundert bis zu den Selfies von heute, von der Daguerrotypie bis zur Handyfotografie. Über 250 Fotografien sind im Buch zu sehen, darunter Prominente wie Marilyn Monroe, Barack Obama oder Queen Elisabeth. Alles, was in der Fotografie Rang und Namen hat, ist mit Werken im Buch vertreten. Beispielsweise Arbeiten von Elina Brotherus, Edward Steichen, Richard Avedon, Thomas Ruff, August Sander, Martin Parr, Irving Penn, Alec Soth und vielen anderen. Der Autor ging nicht chronologisch vor, sondern entschied sich für spannende thematische Gruppierungen. So heißen die Kapitel zum Beispiel "Me, Myself and I", "Death by Selfie", "Nice to meet you", "Vermarkte dich selbst" oder "Du solltest dich in Szene setzen". Schon die Kapitelüberschriften machen Lust auf das Buch. Jedes Kapitel beginnt mit einleitenden Gedanken zum Thema, illustriert mit kleinen Fotos im Fließtext. Es folgt eine Fülle weiterer Fotografien, teils nur mit Fotografin, Titel und Entstehungsjahr beschrieben, teils mit differenzierten Analysen und tiefgründigen Gedanken zu den Werken. So wird die gesamte 150-jährige Geschichte der Porträtfotografie abgedeckt.

Die acht Kapitel geben einen wunderbaren Überblick über die Geschichte der Porträtfotografie. Das gelungene Layout mit vielen ganzseitigen Abbildungen lädt zum mehrmaligen Durchblättern ein. Das Besondere sind jedoch die fundierten Bildanalysen des Autors. Schon in der Einleitung geht es um die Frage, ob ein Porträt eines Menschen in jungen Jahren weniger über ihn aussagt als ein später aufgenommenes. Dahinter steht die Frage, wie sich Persönlichkeit entwickelt und (wie) sie sich überhaupt fotografisch festhalten lässt. Ebenso interessant sind Selbstporträts, auf denen der Porträtierte gar nicht zu sehen ist - wie etwa in der Serie der Pappeln von Alfred Stieglitz, die zwischen 1920 und 1935 entstand. Oder: Konstruiert man ein Fotostudio bewusst so, dass sich die Person vor der Kamera unwohl fühlt und dadurch eher etwas von sich preisgibt, oder setzt man auf Kommunikation, um Spannungen abzubauen? Unzählige Gedankenspiele wirken in Kombination mit den gezeigten Fotografien eindrucksvoll auf die Lesenden. Die ausgewählten Fotografien sind sehr abwechslungsreich und gut gewählt. Sie regen zu weiteren Recherchen über das Projekt und die Fotografin an. Das Buch besticht durch seine hohe Druckqualität und die Grammatur des Papiers.

Als Fotograf wusste der Autor dieser Rezension bereits, wie früher in der Dunkelkammer retuschiert wurde. Die gezeigte Serie "From Charwoman To Dowager" von Cecil Beaton aus den 1930er Jahren ist jedoch ein fast unglaubliches Beispiel für die Möglichkeiten der Modefotografie jener Zeit. In einer zukünftigen Auflage wäre es spannend, den Band um Entwicklungen rund um die KI-basierte Fotografie zu erweitern. Wie verändern sich (Selbst-)Porträts, wenn nicht mehr fotografiert werden muss, um ein neues Porträt zu "produzieren"?

"Das Porträt in der Fotografie" ist eine wirklich gelungene Kombination aus Coffee Table Book und Textbuch zur Geschichte der Porträtfotografie. In Zeiten einer unüberschaubaren Menge an Fotografien ist eine reflektierte Auseinandersetzung mit der Fotografie in Bezug auf das Porträt besonders wichtig. Warum fotografieren wir? Warum fotografieren wir uns selbst oder andere und helfen uns die Ergebnisse, uns selbst zu verstehen? Der Kunsthistoriker und Fotoexperte Phillip Prodger liefert uns viele Ideen und Konzepte früherer Fotograf*innen in einem beeindruckenden Fotobuch.

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