Ein europäisches Karussell

Familienarchiv

von Boris Chersondskij
Rezension von Claudia Cernohuby | 27. Juni 2014

Familienarchiv

Das zwanzigste Jahrhundert hatte viele Tiefpunkte inmitten seiner bewegten Geschichte. In manchen Ländern und Lebenssituationen wurde das deutlicher als in anderen. Familienarchiv" schildert das Jahrhundert der großen Kriege, Auf- und Umbrüche aus Sicht einer jüdisch-russisch-ukrainischen Familie.

Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts werfen die Mädchen Rachel und Nechama, die später ihre Namen zu Raissa und Nadeschda russifizieren, Steine in einen Brunnen, in dem ein Gespenst spuken soll. So beginnt das "Familienarchiv" Chersondskijs. Die Mädchen hören die Steine nie aufprallen, so tief ist der Schacht. Tief und verzweigt sind auch die verschiedensten Persönlichkeiten, aus denen die Familie besteht. Manche sind schillernd, andere einfach, einige streng gläubig, viele modern. Ein Arzt, Lehrer, ein Verleger, ein orthodoxer Priester, Ehefrauen, Schwestern, Brüder, Tanten und Onkel, Großeltern und Enkel. Krankheiten raffen einzelne Familienmitglieder dahin, andere haben dunkle Geheimnisse, einige werden von Schicksalsschlägen zerbrochen, andere überstehen sie. Die jüdische Familie sieht sich verschiedensten Arten der Verfolgung ausgesetzt, die Deutschen sind nach den Bolschewiken keine Erlösung, ganz im Gegenteil. Auch im Stalinismus verschwinden Familienmitglieder, werden nach Sibirien deportiert oder getötet. Immer weiter über die Welt verteilen sich die Familienmitglieder, Freunde und Bekannten, immer wieder wandern sie aus, um Repressalien und Verfolgung zu entgehen.

"Familienarchiv" ist ein Roman in Versform. Er be- und entsteht aus Briefen, Erinnerungen, Geschichten, Fotos, Fragmenten einer Familie aus einem ganzen Jahrhundert. Die kurzen Episoden spielen sich in Odessa, Wilna, Jerusalem und Brooklyn ab und bieten einen Einblick in eine ukrainische Familie. Es handelt sich nicht um ein Familienepos im klassischen Sinn, sondern um Auszüge und Einblicke, lediglich Fragmente, die einen Eindruck von der Geschichte der Familie geben. Bewegend sind die traurigen Schicksale derjenigen, die dem Holocaust zum Opfer fallen, von russischen Antisemiten oder der stalinistischen Herrschaft getötet werden, aber auch jener, die andere Schicksalsschläge erdulden müssen. Chersondskij erzählt mitreißend, einfühlsam und in einer Qualität, die selbst die ungewohnte Erzählform sofort zu einer Selbstverständlichkeit werden lässt.
Die deutsche Übersetzung klingt zwar sprachlich immer noch sehr gut, das russische Original scheint aber noch weitaus besser zu sein. Durch die Übersetzung geht viel der Schönheit der Dichtung verloren - wer also des Russischen mächtig ist, sollte unbedingt versuchen, die Verse im Original zu lesen.

Chersondskij, ursprünglich ein Psychiater, lebt in Odessa. Er ist ein bekannter Dichter, Philosoph und Schriftsteller und erlebt die aktuelle Situation in der Ukraine hautnah mit. Das Thema Identitätsfindung ist also brisanter und aktueller denn je. Spannend wäre die Fortsetzung der Familiengeschichte nach dem Fall der Sowjetunion, in der Unabhängigkeit der Ukraine und in der jetzt stattfindenden Krise - und darüber hinaus. Vielleicht wird der Autor die Erzählung eines Tages fortsetzen. Zu hoffen bleibt nur, dass dann die positiven Seiten überwiegen werden.

Details

Bewertung

  • Gesamt:
  • Spannung:
  • Anspruch:
  • Humor:
  • Gewalt:
  • Gefühl:
  • Erotik:

Könnte Ihnen auch gefallen: