Deutschland, ein Wirtschaftsmärchen


Warum es kein Wunder ist, dass wir reich geworden sind
von Ulrike Herrmann
Rezension von Elisabeth Binder | 12. November 2019

Deutschland, ein Wirtschaftsmärchen

Im Jahr 2019 feiert man in Deutschland einige historische Jubiläen, allen voran 70 Jahre Bundesrepublik und 30 Jahre Mauerfall. Im Vergleich zu der intensiven Aufarbeitung des historischen Kontexts dieser politischen Ereignisse, halten sich, so zumindest die These von Ulrike Herrmann, um die gleichzeitig stattfindenden wirtschaftlichen Entwicklungen dieser Periode hartnäckig einige unhinterfragte Mythen und Märchen.

Für Ulrike Herrmann ist das Aufdecken dieser Mythen nicht bloß ein besserwisserischer Selbstzweck. Denn: "Die Märchen sind also keineswegs harmlos, die über die bundesdeutsche Wirtschaftsgeschichte erzählt werden. Sie haben konkrete Folgen und schädigen Millionen Bürger. Den Legenden kann aber nur widersprochen werden, wer weiß, was wirklich geschah." (S. 9) Die Legendenbildung beginnt übrigens unmittelbar mit Ende des Zweiten Weltkriegs, nämlich mit der "Stunde Null", die keine war. Im Gegenteil, das Bild von den Deutschen, die im Schweiße ihres Angesichts und ganz allein aus einem Trümmerhaufen einen phänomenalen wirtschaftlichen Aufschwung schafften, ist nicht ohne die massive Unterstützung, vor allem durch die USA, sei es mit Lebensmitteln und später mit den Mitteln des "Marshall-Plans", denkbar. "Wirtschaftswunder" blieben in der Nachkriegszeit im Übrigen nicht nur auf Deutschland beschränkt, hohes prozentuelles Wachstum galt auch für andere europäische Länder, die einen entsprechenden Nachholbedarf hatten, wie beispielsweise Spanien.

Auch wirtschaftspolitisch gab es keine "Stunde Null", gerade der selbst-stilisierte "Vater" der "D-Mark", Ludwig Erhard, konnte seine wirtschafts-"wissenschaftliche" Karriere im 3. Reich geschickt kaschieren und machte gleich wieder Karriere, diesmal in der Politik. Seine betriebswirtschaftlichen Experimente auf volkswirtschaftlicher Ebene gingen im Konkreten oft nicht gut aus. Er konnte aber mit dem Schlagwort der "sozialen Marktwirtschaft", die eigentlich nur Markt und wenig Soziales beinhaltete, die Illusion auch für spätere Generationen aufrechterhalten, dass sich Sozialleistungen erübrigen, wenn man den Markt nur in Ruhe lässt. Interessant zu beobachten ist allerdings, dass genau dann mehr für einen sozialen Ausgleich passierte, wenn von politischer Seite aktiv gegen die "soziale Marktwirtschaft" agiert wurde. Dazu gibt es allerdings nur wenige, eigentlich genau zwei, Beispiele, nämlich die Rentenreform von 1957 und die Währungsunion im Zuge der Wiedervereinigung. Wirtschaftspolitische Gestaltungsmöglichkeiten bleiben auch durch die Aktivitäten der Bundesbank beschränkt, die über ein ungewöhnliches hohes Maß an Unabhängigkeit und einen eindimensionalen Auftrag verfügt, nämlich der Kontrolle der Inflation um wirklich jeden Preis, auch den der wirtschaftspolitischen Gestaltungsräume. Kapitel zu den wirtschaftlichen Auswirkungen der Wiedervereinigung, der als "alternativlos" dargestellten Niedriglohnpolitik unter Rot/Grün, der Finanzkrise von 2007 und schließlich den darauf folgenden Eurokrise erzählen die inzwischen immer gleiche Geschichte einer Wirtschaftspolitik in der Schockstarre neoliberaler Zwänge, die die Reichen immer reicher werden lässt. Das Ende ist leicht optimistisch, was die positive Wirkung einer Wirtschaftspolitik für die 99% betrifft.

Der Autorin gelingt es auf jeden Fall über 260 Seiten hinweg, eine durchgehende, gut verständliche - und vor allem auch reichlich mit Quellen belegte -Chronik der wirtschaftlichen Entwicklung Deutschlands seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu erzählen, inklusive dezenter Cliffhanger am Ende jeden Kapitels. Die außerordentliche Lesbarkeit der Geschichte ist im Verhältnis zur zugrundeliegenden Faktendichte erstaunlich und vor allem sehr erfreulich. Unter anderem wird das durch die 55 Seiten Anmerkungen möglich, die oft auch noch über die reine Belegstelle hinausgehen und tiefer in die Materie eintauchen, sowie zehn Seiten Literaturangaben. Die Gründlichkeit und Unermüdlichkeit der Recherche von Ulrike Hermann lässt sich unter anderem auch daran erkennen, dass Literatur, Quellen- und Zahlenmaterial aus 2019 in das Buch einfließen.

Mit "Deutschland, ein Wirtschaftsmärchen" beweist Ulrike Herrmann ein weiteres Mal ihre Qualitäten als "Ghostbuster" wirtschaftspolitischer Legendenbildung, wobei es ihr gelingt, durchaus komplexe Sachverhalte nachvollziehbar zu erklären. Einzig das Lesen wird einem nicht erspart - trotz des deutschen Sparfetischismus.

Details

  • Autor*in:
  • Verlag:
  • Genre:
  • Sprache:
    Deutsch
  • Erschienen:
    09/2019
  • Umfang:
    320 Seiten
  • Typ:
    Hardcover
  • ISBN 13:
    9783864892639
  • Preis (D):
    24 €

Bewertung

  • Gesamt:
  • Spannung:
  • Anspruch:
  • Humor:

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