Unter den hundertjährigen Linden

von Valérie Perrin
Rezension von Emilia Engel | 04. Januar 2020

Unter den hundertjährigen Linden

Ein Friedhof hat eine ganz eigene, besondere Atmosphäre. So ist es auch auf dem Friedhof von Violette Touissant in einem kleinen Ort in Burgund. Hundertjährige Linden säumen die Alleen des Friedhofs, überall blühen Blumen, um die sich Violette hingebungsvoll kümmert. Es ist diese Stille und dieser Frieden, den sie genießt. Denn Violettes Leben lief bisher noch nie in ruhigen Bahnen, im Gegenteil. Doch jetzt droht ihre Vergangenheit sie aufs schmerzlichste einzuholen.

Violette lebt glücklich auf ihrem Friedhof als Friedhofswärterin. Sie umhegt ihren Gemüsegarten, sorgt sich liebevoll um die Gräber und kümmert sich um die Trauernden, die stets an ihre Tür klopfen. Sie genießt den Moment und versteht es sich über die kleinen Dinge im Leben zu erfreuen. Die Toten sind ihr eine gute Gesellschaft, sie kennt jeden einzelnen beim Namen, Geburts- und Sterbedatum.
Als es eines Tages an ihre Tür klopft, ahnt Violette nicht, dass sich ihr Leben von nun an verändern wird. Ein Mann steht vor ihrer Tür, ein Kommissar, der etwas verloren wirkt. Juliens Mutter ist erst kürzlich gestorben und ihr Testament lässt verlauten, dass sie an einem fremden Ort neben einem ihm unbekannten Mann bestattet werden möchte, nicht neben seinem Vater. Julien will mehr über diesen fremden Mann wissen, der der Liebhaber seiner Mutter gewesen ist. Mehr oder weniger freiwillig begibt sich die Friedhofswärterin mit Julien auf eine Reise in die Vergangenheit und merkt dabei, dass ihr eigenes Herz gar nicht so erkaltet ist, wie sie gedacht hat. Ihr Herz, dass sie niemals wieder an jemanden verlieren wollte. Doch nach all den Jahren weiß sie nicht, ob sie es wagen kann ihr Herz wieder für jemanden zu öffnen. Die Angst vor dem Schmerz und dem Verlust ist einfach zu groß.
Da muss sich auch Violette ihrer Vergangenheit stellen und zurückreisen. Zurück zu dem Moment, an dem sie ihren Mann Philippe Touissant kennengelernt hatte, als sie sich das erste Mal in ihrem Leben bei einem Menschen zu Hause gefühlt hatte. Doch das Glück hat manchmal auch seine Schattenseite und Violettes Leben hatte viele davon.
Schafft sie es sich aus diesen Schatten zu erheben und ein neues Leben zu beginnen? Wird sie der Liebe aufs Neue eine Chance geben?

Valérie Perrins “Unter den hundertjährigen Linden” verbirgt weit mehr als es das Cover und der Klappentext des Buches erschließen lassen. Was als Wohlfühlroman anmutet, entpuppt sich jedoch rasch als Lebensgeschichte einer Frau, die es nie leicht hatte in ihrem Leben und viel ertragen und erleiden musste.  

Zum einen hat man den Handlungsstrang der Vergangenheit, der deutlich geprägt ist von Unterdrückung und einer tristen Atmosphäre. Es passiert so einiges in diesen frühen Jahren, das dem Leser schon sehr ans Herz geht. Für manche mag es unerwartet sein, denn mit allzu Tragischem rechnet man zunächst nicht bei diesem Buch. Da diese Vergangenheit aus verschiedenen Perspektiven erzählt wird, bekommt der Leser auch wunderbare Einblicke in Personen, die ihm vermutlich nicht so sympathisch sind. Das sorgt dafür, dass man hinter deren Masken sieht und beginnt zu verstehen.
Der andere Erzählstrang spielt viele Jahre später. Violette ist eine Frau, die zufrieden ist mit ihrem Leben alleine und die die Vergangenheit hinter sich gelassen hat. Sie hat sich aus der jungen Frau, die sich so viel gefallen lässt, in eine selbstbestimmte Frau gewandelt. Doch ganz tief in ihr drin gibt es immer noch Zweifel und Ängste. Und die werden von Julien wachgerufen.
Violette ist eine ganz beeindruckende Protagonistin, mit der der Leser mitfühlen kann. In ihrer scheinbaren Schwäche beweist sie eine Resilienz und eine Stärke, die man nur bewundern kann. Trotz allem hat sie es immer geschafft in vielen Dingen und im Alltag ihr Glück zu finden. Auch was aus ihr letztlich geworden ist, die Frau die sie mit ihren knapp 50 Jahren ist, macht dem Leser Mut und zeigt eindrucksvoll, dass Menschen an Krisen und Tragödien wachsen und neuen Mut und Hoffnung finden können.
Philippe Toussaint ist einer, den man schon zu Beginn nicht mag. Das ändert sich auch lange nicht, aber auch hier sieht man gegen Ende, dass wohl nicht alles an ihm schlecht war.
Julien hingegen, der Kommissar, ist von Anfang an ein äußerst sympathischer Charakter - seine ganze Art, sein Verhalten. Man sehnt die Stellen regelrecht herbei, an denen er vorkommt und hofft, dass sich Violettes Herz möglichst bald erweichen lässt.
Dann gibt es schließlich noch den letzten Handlungsstrang umJuliens Mutter - Irène Fayolle - und die des Anwalts Gabriel Prudent, in den sie sich verliebt und neben dem sie letzten Endes beigesetzt werden möchte. Immer wieder taucht der Leser zwischen den anderen Kapiteln in die Geschichte dieser beiden ein. Eine fabelhafte Liebesgeschichte, die anders ist als herkömmliche und ausgezeichnet zum Rest der Geschichte passt.

Alles in allem ist “Unter den hundertjährigen Linden” ein empfehlenswerter Roman, der tiefgründiger ist als die gewöhnliche Unterhaltungsliteratur und mit einer berührenden Geschichte aufwartet. Es ist Buch, in dem es um Verlust und Schmerz geht, aber letztlich doch auch immer um die Liebe, die so viele verschiedene Formen annehmen kann. Dazu birgt es den Charme des Französischen, dem man sich nur schwer entziehen kann.

Details

  • Autor*in:
  • Originaltitel:
    Changer l'eau des fleurs
  • Verlag:
  • Genre:
  • Sprache:
    Deutsch
  • Erschienen:
    11/2019
  • Umfang:
    512 Seiten
  • Typ:
    Hardcover
  • ISBN 13:
    9783426226933
  • Preis (D):
    19,99 €

Bewertung

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