Freie Geister

von Ursula K. Le Guin
Rezension von Stefan Cernohuby | 26. Februar 2017

Freie Geister

Schon seit Jahrhunderten träumt die Menschheit von einer idealen Gesellschaft. Seit der Antike hat es diverse autoritäre und mehr oder weniger soziale Systeme gegeben, die allesamt eines gemeinsam haben. Sie sind nicht perfekt. Ursula K. Le Guin hat dieses Thema in ihrem erstmals 1974 erschienenen Roman „Freie Geister“ behandelt, der von einer Gesellschaft in ferner Zukunft handelt. Doch gewisse Themen passen in jede Zeit.

Es ist ein denkwürdiger Tag, an dem der junge Physiker Shevek vom Planeten Annares auf Urras reist. Für die Entscheidung von seinen eigenen Leuten ausgestoßen und geächtet, wird er vorerst begeistert willkommen geheißen und von seinen Kollegen aufgenommen. Niemand hat mit derartigen wissenschaftlichen Durchbrüchen von einem jungen Annarer gerechnet – und sein erstes großes Werk wird von einem der einflussreichsten Physiker überarbeitet und als gemeinsames Werk veröffentlicht. Doch danach stellt Shevek schnell fest, dass vieles anders ist als auf seiner Heimatwelt. Während in dem dortigen anarchistisch-sozialistischen System das „Egoisieren“ – also etwas für die eigene Profilierung zu tun – verpönt ist, herrscht auf Urras absolut kapitalistisches Gedankengut vor. Jegliche Leistung ist mit Neid verbunden, alles muss einen finanziellen Nutzen haben. Zudem werden Frauen, im krassen Gegensatz zu seiner Heimat, überhaupt nicht für voll genommen. Als er sich mit seinen einstigen Förderern überwirft, erkennt er, dass die Gründe, aufgrund der seine Vorfahren den Planeten einst verließen, keineswegs gelöst sind, sondern immer noch vorhanden sind.
Ein zweiter Handlungsstrang erzählt das Leben von Shevek, bevor er seine Entscheidung trifft, nach Annares zu reisen. Er erzählt von einer Existenz auf Messers Schneide, auf einem unbarmherzigen Planeten, auf dem alle arbeiten müssen und niemandem wirklich etwas gehört. Außer der Liebe – und selbst diese nur in streng rationierten Portionen.

„Freie Geister“ – im englischen Original „The Dispossessed“ – ist keineswegs ein Rundumschlag gegenüber allen verschiedenen Regierungsformen und Gedankenmodellen. Er zeigt jedoch, dass Idealismus in jeglichem Gesellschaftssystem als Bedrohung aufgefasst werden kann. In einem wird aus dem Streben nach Fortschritt ein egoistischer Zug, im anderen ein nichtprofitables Vorhaben und dementsprechend als verachtenswerter Charakterfehler gesehen. „Freie Geister“ ist daher ein teilweise zutreffender Titel. Denn jene haben es in keiner Gesellschaft leicht. Wie so oft endet auch hier vieles mit Gewalt und Tod, denn jegliche Veränderung muss aus einem Wunsch heraus entstehen und kann nie ohne Widerstand von außen diktiert werden. Erst gegen Ende wird durch das Einbringen einer dritten und auch bekannten Fraktion klar, wie die Entwicklung im Buch bis zum aktuellen Handlungsstrang vorangeschritten ist und ermöglicht dann auch eine gewisse Schätzung, wo man es zeitlich ansiedeln kann. Obwohl es sich jetzt keineswegs um einen actiongeladenen Roman handelt, vermag das Buch trotz der vielen Forschung, sowie wissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Theorien zu überzeugen – geschickt eingefädelt durch das Wechseln der Handlungsstränge. Und gerade dieser örtliche und zeitliche Sprung ist es, der das Buch in zwei Welten am Leben hält und den Leser fesselt.

Mit „Freie Geister“ hat Ursula K. Le Guin einen Roman geschaffen, der auch über 40 Jahre nach seinem ersten Erscheinen überzeugt. Er betreibt gesellschaftliche und politische Kritik, indem er Überzeichnet und gleichzeitig Fragen aufwirft. Fragen, die bis heute nicht zufriedenstellend beantwortet werden können. Kein Wunder, dass das Buch drei der größten Literaturpreise einheimste (Hugo, Nebular und Locus-Award). Hierbei handelt es sich um einen Klassiker, den jeder Liebhaber guter Science-Fiction sein Eigen nennen sollte.

Details

Bewertung

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