Meine kleine Großmutter & Mr. Thursday


oder die Erfindung der Erinnerung
von Tanja Langer
Rezension von Janett Cernohuby | 06. Dezember 2019

Meine kleine Großmutter & Mr. Thursday

Familiengeschichten sind etwas Spannendes, viel fesselnder als ein Krimi, viel leidenschaftlicher als eine Liebesgeschichte. Sie breiten sich vor uns aus, zeigen aber gerne an der einen oder anderen Stelle Lücken auf. Tritt dies ein, bleibt uns nur noch die Spekulation, das erahnen, warum etwas gekommen ist, wie es geschah. Vielleicht fangen wir an eben solchen Stellen an, uns eine Erklärung auszudenken, uns eine Erinnerung zu erfinden. So wie es die Protagonistin in Tanja Langers Roman „Meine kleine Mutter & Mr. Thursday“ tat.

Erinnerungen an die Großmutter

Linda, eine Übersetzerin aus dem Persischen, vermag eine solche große Familiengeschichte zu erzählen. Am Anfang dieser großen Geschichte steht ein Traum, den sie selbst hatte. Darin begegnete sie ihrer Großmutter, einer Frau, die sie kannte und auch wieder nicht kannte. Eine große Frau, trotz ihrer gerade einmal ein Meter fünfzig. Dieser Traum bewegt Linda dazu, den Spuren ihrer Großmutter zu folgen. Sie lässt uns, ihre Leser, daran teilhaben und erzählt die Lebensgeschichte dieser bemerkenswerten Frau. Einer Frau, die während des zweiten Weltkriegs aus Oberschlesien nach Lüneburg zur ihrer Schwägerin flieht, während ihr Mann in Kiel an der Front ist.
Ida hat es nicht leicht. Sie leidet sehr unter der abweisenden Schwägerin, dem Hunger und der Not, die der Krieg mit sich bringt. Zumal sie sich nicht nur um sich selbst, sondern auch ihre vier Kinder kümmern muss. Doch Ida gibt nicht auf. Sie kämpft, löst sich von der boshaften Schwägerin und lernt auf eigenen Beinen zu stehen. Sie ergreift jede Gelegenheit, die sich ihr bietet, eröffnet eine Art Waschsalon, in dem sie die Hemden für britische Soldaten, aber auch Kriegsgefangene wäscht. Sie tauscht Waren, sie schmuggelt Briefe für die Gefangenen und sie lässt sich nicht unterkriegen. Eines Tages lernt sie Mr. Thursday kennen, den Direktor eines englischen Kinos. Der zurückhaltende Mann ist fasziniert von der kleinen, selbstbewussten Frau und gibt ihre eine Anstellung als Filmvorführerin.

Eine Familiengeschichte zum Träumen

Nicht alles von dem, was Linda uns, ihrer Leserschaft, erzählt, weiß sie von ihrer Großmutter. Vieles aus der Familiengeschichte ist verloren gegangen, hat die kleine Großmutter mit ins Grab genommen. Geblieben sind nur Fotografien, aus denen sich Linda die Geschichte ihrer Großmutter zusammenreimt - ja quasi erträumt. So entwickelt sich eine Geschichte voller Sehnsucht, Hoffnung, Verzweiflung und Zuversicht. Es hat etwas Liebevolles, wenn die Erzählerin von ihrer „kleinen Großmutter“ spricht. Sofort werden beim Leser ganz bestimmte Assoziationen geweckt. Man sieht eine Frau vor sich, klein, zierlich, aber trotzdem willensstark und selbstbewusst. Freilich muss Ida so manches noch lernen. Der Krieg zwingt sie dazu, er lässt sie über sich hinauswachsen und einen Weg für sich und ihre Kinder finden. Es ist bemerkenswert, mit welchem Mut, mit welchem Willen und mit welcher Kraft Ida die Schwierigkeiten der Kriegs- und Nachkriegsjahre meistert.
Tanja Langer erzählt eine Geschichte zum Hineintauchen, darin versinken und sich davontragen lassen. Ihre Sprache ist wunderbar atmosphärisch, lebendig und träumerisch. Geschickt verknüpft die Autorin zwei verschiedene Erzählstränge: jenen von Linda, die als Übersetzerin in der Gegenwart lebt und sich auf die Spurensuche ihrer Familiengeschichte begibt, und jene von der kleinen Großmutter, die sich für sich und ihre Kinder kämpft. Die Perspektiven wechseln einander fließend ab und zeichnen ein Bild zweier beeindruckender Frauen.

„Meine kleine Großmutter & Mr. Thursday“ ist eine bewegende und berührende Familiengeschichte voller Sehnsucht und Träume. Man möchte Ida bald schon gar nicht mehr von der Seite weichen, ist man doch beeindruckt von ihrer Kraft, ihrer Stärke und ihrer lebensbejahenden Art. Gleichzeitig ist man auch fasziniert von der Enkeltochter, die uns Idas Geschichte erzählt und sie dort mit der Kraft der Fantasie und Vorstellungskraft füllt, wo es eigentlich Lücken gibt. So entstand eine Reise in eine Zeit voller Entbehrungen und Schicksalsschläge.

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