Der Tag X

von Titus Müller
Rezension von Janett Cernohuby | 12. April 2017

Der Tag X

Ein Tag an dem etwas ganz Bestimmtes und Bedeutendes geschehen soll, aber dessen genaues Datum noch nicht bekannt ist, wird gemeinhin als Tag X bezeichnet. Doch mit diesem Synonym ist auch ein Tag gemeint, dessen Datum sehr wohl bekannt ist und der aufgrund seiner - in diesem Fall - schrecklichen Ereignisses in die Geschichte einging. Die Rede ist vom 17. Juni 1953, als sich die Arbeiterklasse der DDR erhob, um gegen das Regime zu protestieren. Titus Müller siedelt seinen neuen Roman in dieser Zeit an und zeichnet ein Bild des Lebens der Menschen vor, an und nach dem "Tag X".

Der Krieg ist gerade einmal ein Jahr vorbei, als der Vater der elfjährigen Nelly von den Russen verschleppt wird. Als Wissenschaftler soll er für die Russen arbeiten. Sieben Jahre später steht Nelly kurz vor dem Abitur. Da sie allerdings einer kirchlichen Jugendorganisation angehört und sich gegen die FDJ entscheidet, wird sie von der Schule geworfen. Sie findet Trost bei dem Uhrmacher Wolf, dessen Vater ein hohes Amt bei der Partei begleitet. Gleichzeitig steht Nelly auch noch in Kontakt mit dem russischen Spion Ilja, der Briefe zwischen ihr und ihrem Vater weiterleitet.
Unterdessen brodelt es in der Bevölkerung der DDR. Während der Westen aufblüht, werden hier Lebensmittel, trotz Rationalisierung, immer knapper. Dafür wurden die Arbeitsnormen stark erhöht, was für die Arbeiter einen Lohnverlust bedeutete. Die Situation schaukelt sich immer weiter auf, bis es letztendlich am 17. Juni 1953 zu Massendemonstrationen kommt.

Großartig gelingt es Titus Müller, ein Bild jener Tage zu zeichnen und es seinen Leser in einem spannenden historischen Roman zu präsentieren. Er verwebt politische Machtspiele, persönliche Schicksale und gesellschaftliche Unzufriedenheit miteinander und lässt sie in verschiedenen Handlungssträngen zum Tragen kommen. Dadurch kann sich der Leser ein sehr gutes Bild machen, wie angespannt und belastend die Situation in jenen Tagen gewesen ist. Man erhält einen tiefen Einblick in das Leben von Parteitreuen und Kritikern. Sie alle haben ihre Ansichten, für die sie kämpfen. So rückt Müller gekonnt die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in den Mittelpunkt und nimmt seine  Leser mit auf eine Zeitreise in jene ereignisreichen Tage. Bei ihm kommen die einfachen Leute zu Wort und erzählen ihre Geschichte, aber auch die großen Politiker, darunter Stalin und Adenauer. Der Leser erfährt, wie sich Menschen gegenseitig bespitzelten oder wegschauten. Er bekommt gezeigt, mit welchen Mitteln die Partei Einfluss nahm und den Einzelnen von ihrer Meinung überzeugte. Durch Nellys und Iljas Geschichte kommt zudem Spannung und Dramatik in die Handlung. Denn letztendlich steht auch immer noch die Frage nach Nellys Vater im Raum. Wo ist er? Wie geht es ihm und vor allem, wann kommt er zurück?
Müller zeichnet seine Figuren weder schwarz noch weiß. Sie alle haben ihre Stärken und Schwächen. Das gilt in gewisser Weise auch für die Politiker. Wer hier der Böse ist, wer der Gute und wer nur Mitläufer, überlässt Müller letztendlich dem Leser selbst. Dabei beschönigt er nichts, sondern erzählt deutlich von den damaligen Begebenheiten und Strukturen. Ein umfangreiches Nachwort zeigt noch einmal historische Fakten und Daten, umreißt die Tage rund um den 17. Juni 1953 mit ihrer Vorgeschichte, ihren Politikern und den diversen Parteien und Organisationen. Man bekommt hier quasi den historischen Kern zur fiktiven Geschichte zusammengefasst.

"Der Tag X" ist ein spannender und fesselnder Roman, der von dem berühmten Aufstand in der DDR im Sommer 1953 erzählt. Gekonnt mischt Titus Müller historische Personen mit fiktiven Charakteren, geschichtliche Ereignisse mit persönlichen Schicksalen, die es ähnlich gegeben haben könnte. Der Leser bekommt ein lebendiges Bild jener Zeit gezeichnet, das erschüttert und unter die Haut geht.

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