H. P. Lovecraft - Leben und Werk

H. P. Lovecraft - Leben und Werk, Band 1

von S. T. Joshi
Rezension von Stefan Cernohuby | 20. Dezember 2017

H. P. Lovecraft - Leben und Werk, Band 1

Das Leben jedes Menschen hat eine gewisse Länge. Hat eine Person etwas Bemerkenswertes oder Außergewöhnliches geschaffen, kann es sein, dass irgendwann eine Autobiografie oder später eine posthume Biografie entsteht und erscheint. Bei einigen Autoren gibt es dann anerkannte Experten, die das Leben und das Werk als Biograf beinahe minutiös durchleuchten. Und trotzdem muss man sich angesichts von S. T. Joshis Biografie „Lovecraft, Leben und Werk“ fragen, ob das Leben des Autors insgesamt über 1.400 Seiten rechtfertigt. Wir wollten das wissen und haben uns den ersten Band des Zweiteilers näher angesehen.

Kein einfaches Kind

Das Werk beginnt amüsanter Weise mit einem Vorwort, das sich genau dieser Frage widmet. Muss das wirklich so viel und so lang sein? Natürlich wird sie an dieser Stelle mit „Ja“ beantwortet. Man steigt ein in den Stammbaum von Howard Phillips Lovecraft und zu seinem zweifelhaften Anspruch von rein englischer Abstammung. Dann geht es zu seinen jungen Jahren, der folgenschweren Erkrankung seines Vaters bis zu dessen Tod in einem Irrenhaus. Zu der Zeit, in der seine Großmutter die einzige wirkliche Bezugsperson wird. Zu seiner Jugend als Kind mit einem schwachen Nervenkostüm und beinahen Unfähigkeit dazu, regulär eine Schule besuchen zu können. Als Autodidakt zeigte er schon früh Interesse an Chemie und Astronomie, zu denen er erste Werke veröffentlicht.

Viele verschiedene Interessen

Neben seinen sehr frühen Geschichten als Kind richtete sich sein Interesse zuerst auf andere Gebiete. Dichtkunst und Amateurjournalismus sind die ersten Wegbereiter zu seiner späteren Tätigkeit als Schriftsteller. Und überall wo er aktiv wird, hinterlässt er bleibende Spuren. In leitenden Positionen verschiedener Organisationen und Vereinigungen erregt schließlich eine seiner alten Kurzgeschichten Aufmerksamkeit und lässt ihn erstmals daran denken, sich mehr der Literatur zu widmen. Kritik, Gegenkritik, sein Schreibstil und auch sein nie verhohlener Rassismus und die Verbreitung seiner Meinung zur Vorreiterrolle der weißen Rasse gegenüber anderen sorgen immer wieder für Probleme. Auch, dass viele seiner frühen Werke kaum verhohlene Nachahmungen des Schreibstils des von ihm über alle Maßen verehrten Edgar Allen Poe darstellen, gereicht ihm nicht zum Vorteil. Zunehmender Zynismus und eine immer produktivere Tätigkeit des Schreibens treffen plötzlich auf den Tod seiner Mutter und eine andere Frau, eine Jüdin, die in sein Leben tritt – und für eine gewisse Zeit tatsächlich seine Ehefrau wird.

700 Seiten sind längst nicht genug

Band 1 von „Lovecraft – Leben und Werk“ umfasst die ersten 24 Jahre von Lovecrafts Leben – die übrigen zehn finden sich im zu diesem Zeitpunkt noch nicht erschienenen zweiten Band. Und man erkennt hier, dass S. T. Joshi, der weltweit anerkannte Experte in Sachen H. P. Lovecraft, dem neuenglischen Schriftsteller so gut wie sein ganzes Leben gewidmet hat. Wenn es jemandem heute gelingen soll, ein Leben derartig minutiös zu durchleuchten und dieses bis auf einige ganz wenige und winzige blinde Flecken aufzuarbeiten, ist das nur durch lückenlose technische Überwachung möglich. Lovecraft war allerdings ein so eifriger Briefschreiber, dass seine Korrespondenzen mit unzähligen Kommunikationspartnern einerseits und die Hinterlassenschaften seiner Arbeiten an Gazetten und Magazinen andererseits ermöglicht haben, so gut wie alles zu recherchieren. Natürlich nicht von heute auf morgen, sondern in jahrzehntelanger Arbeit. Das hier vorliegende Werk ist die erstmals 1996 erschienene und 2010 komplett überarbeite und nun erstmals auf Deutsch übersetzte Version des bereits als Standardwerk anerkannten Buchs „I am Providence: The Life und Times of H. P. Lovecraft“ von S. T. Joshi, die genauer kaum sein könnte. Und während das kürzlich von Leslie Klinger erschienene Mammutwerk „H. P. Lovecraft – Das Werk“ auf Basis des Werks Lovecrafts Leben gegenüberstellt, hat dieses Buch die umgekehrte Herangehensweise. Und jeder, der sich wirklich für den zweifelsfrei vorurteilsbehafteten, sturen und herrischen Rassisten Lovecraft interessiert, sei das vorliegende Werk unbedingt ans Herz gelegt. Schon deshalb, um eine wirkliche komplette Sicht auf Autor und Werk zu erreichen – und gewisse Aspekte, die nicht nur durch Zeitgeist und Kinderstube zu entschuldigen sind, seinem Stellenwert in der Literatur und seinem Schaffen gegenüberzustellen. Für all jene wird auch der zweite Band einen Pflichtkauf darstellen.

S. T. Joshi hat mit „Lovecraft – Leben und Werk“ ein Standardwerk geschaffen, welches das Leben des neuenglischen Autors in unglaublicher Detailtiefe beleuchtet. Die jahrzehntelange Arbeit basiert auf viel Recherche und Fakten, kaum einmal wird bei winzigen Details spekuliert. So gelingt es dem Biografen einen ungeschönten Blick auf das Leben und Wirken von Lovecraft zu ermöglichen, inklusive aller negativen Aspekte in Lovecrafts Persönlichkeit, allem voran seinen unverhohlenen Rassismus. Doch gerade das macht den ersten Band dieses Werks unverzichtbar für alle, die Fakten wissen wollen – und diese werden sicher bereits sehnsüchtig auf den zweiten Band warten.

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