Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit


Wahr, falsch, plausibel - die größten Streitfragen wissenschaftlich geprüft
von Mai Thi Nguyen-Kim
Rezension von Elisabeth Binder | 22. März 2021

Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit

Fast auf den Tag genau vor vier Jahren traf die promovierte Chemikerin Mai Ngyuen eine Entscheidung, deren vorläufig letztes Ergebnis nun in Buchform erschienen ist. Sie entscheidet sich gegen eine Karriere in der Industrieforschung und für den Start in der Wissenschaftskommunikation. "Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit" ist nach einem Bestseller über Chemie im Alltag, also einer Bewegung in gewohntem Terrain, ihr zweites Buch. Diesmal geht es der Autorin aber um wesentlich mehr als nur ihre Lieblingswissenschaft, nämlich darum, wie der Schaden für den gesellschaftlichen Grundkonsens, der diesem aus dem Gewirr an Meinungen, Aufgeregtheiten und Verschwörungsideologien droht, eingedämmt werden kann.

Insgesamt werden acht ausgewählte "Streitfragen", so der Untertitel, näher auf ihre Wissenschaftlichkeit und die "kleinste gemeinsame Wirklichkeit" geprüft. Dabei geht es ihr vor allem darum herauszufinden, "wo die Fakten aufhören, wo Zahlen und wissenschaftliche Erkenntnisse noch fehlen und wir uns also völlig berechtigt gegenseitig persönliche Meinungen an den Kopf werfen dürfen." (S. 13) Die Fact Finding Mission beginnt bei einem Thema, das vielleicht in Zeiten von Corona in den Hintergrund geraten ist, nämlich mit der Legalisierung von Drogen. Gerade weil das Thema nicht so sehr unter den Nägeln brennt, eignet es sich gut, um den LeserInnen zu zeigen, wie die Suche nach der Grenze zwischen Fakten und Meinungen aussehen könnte. Das Kapitel startet, so wie die andern auch, zunächst mit einer auch als solche bezeichneten Fangfrage. Einer scheinbar einfach zu beantwortenden Frage also, deren Beantwortung dann mit Referenz (insgesamt 20 eng bedruckte Seiten mit Fußnoten) auf breit gestreute wissenschaftliche Studien auf den Grund gegangen wird und die sich letztendlich als gar nicht mehr so einfach darstellt. Dabei wird aber schnell klar: Ein derart breiter Überblick über ein Thema erfordert Vorwissen und Zeit. Wer nicht über beides verfügt, ist auf die Verlässlichkeit von WissenschaftsjournalistInnen wie May Nguyen angewiesen. Kapitel 1 stellt daher auch eine vertrauensbildende Maßnahme der Autorin gegenüber den LeserInnen dar. Diese Übung gelingt auf jeden Fall und bietet ein gutes Rüstzeug für die wirklich heiklen Fragen, die in Folge behandelt werden, unter anderem der Gender Pay Gap, die Sicherheit von Impfungen, die Erblichkeit von Intelligenz oder die ethischen Rahmenbedingungen von Tierversuchen. Den Abschluss bildet ein leidenschaftliches, aber selbstverständlich fachlich und sachlich fundiertes Plädoyer, dass der wissenschaftliche Konsens wieder Einzug in die Meinungsbildung und Debattenkultur halten möge. Wenn das nicht gelingt, dann besteht weiterhin die Gefahr, dass im Umgang mit komplexen Problemen, wie einer Pandemien oder auch dem Klimawandel, magisches Denken den Vorrang vor wissenschaftlich basierten Lösungsansätzen erhält.

Das Buch liest sich trotz der Fülle und vor allem Dichte an Informationen und Argumentationen vergleichsweise leicht. Wer die mailab Videos von Mai Nguyen kennt, wird unschwer erkennen, dass ihr lockerer YouTube Stil und auch so manches Thema Eingang in das Buch gefunden haben. Allerdings sollte man sich von der lockeren Konversation, die hier signalisiert wird, nicht täuschen lassen, denn es werden durchaus dicke Bretter gebohrt. Es macht sich daher durchaus bezahlt, die Kernpunkte jedes Kapitels in Ruhe durchzuarbeiten und vor allem nachhaltig zu verstehen. Unterstützt wird man als LeserIn durch die Hervorhebung wichtiger Konzepte in roter Schrift, vielleicht nicht ganz vorteilhaft für Rot-Grün-Blinde und das Auslagern von zusätzlicher Information in sogenannte Info-Boxen. So könnte das Buch etwas von einem Nachschlagewerk haben, wenn man sich seitens des Verlags nicht den Aufwand für ein Sach- und Personenregister oder zumindest ein Verzeichnis der Infoboxen gespart hätte.

Ob es sich bei den angesprochenen Themen tatsächlich um die "größten Streitfragen" handelt, sei dahingestellt. Die Auswahl eignet sich auf jeden Fall, unterschiedliche wissenschaftliche Ansätze und Prinzipien zu illustrieren, die sich als Grundlage für eine "Kleinste gemeinsame Wirklichkeit" eignen. Möge die Hoffnung der Autorin in Erfüllung gehen, dass daraus eine Debattenkultur (wieder) entstehen kann, in der noch zwischen Fakten und Meinungen unterschieden wird.

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