Nora Bendzko über Amazonen und Phantastik

„Amazonen-Metal ist definitiv eine Marktlücke!“

Beitrag von Stefan Cernohuby | 25. August 2021

Es heißt oft, dass die Geschichte von Siegern geschrieben wird. Schwieriger sieht es in dieser Situation mit Legenden aus, die ohnehin sehr von Ausschmückung und Verfremdung tatsächlicher Ereignisse leben. Die in Wien lebende Autorin und Sängerin Nora Bendzko hat sich in ihrem Roman „Die Götter müssen sterben“ keinem geringeren Epos als dem Trojanischen Krieg gewidmet. Einem Krieg, dessen Ereignisse in den Werken von Homer und Vergil aus einer sehr eingeschränkten Perspektive betrachtet wurden. Wir freuen uns, dass Nora Zeit gefunden hat, uns zu einem Interview in Wien zu treffen.

Nora Bendzko im Interview

Dein neuestes Werk beschäftigt sich mit der griechischen Mythologie, aber du hast dich schon früher mit überlieferten Geschichten beschäftigt. Wann hat dich die Begeisterung für Adaptionen oder Neuinterpretationen von Märchen und Sagen gepackt?

Das ist schwer zu sagen. Die Stoffe an sich mochte ich schon lange. Ich bin mit Märchen aufgewachsen, habe Grimms und Andersens Märchen sehr gerne gehört und vorgelesen bekommen. Meine marokkanische Mutter hat mir arabische Märchen vorgelesen. Sie hat auch eine Ausgabe von Hauffs Märchen, die ganz toll sind – und manchmal ganz schön grausam. Vielleicht kommt da der erste Dark-Fantasy-Einfluss her. Was aber der Impuls war, dass ich dieses Genre schreiben will, kann ich gar nicht genau sagen. Ich habe mit Märchenadaptionen angefangen, den Galgenmärchen. Damals hatte ich das Gefühl, es gibt zwar Märchenadaptionen, aber dann begann der Hype um Fairytale-Fantasy, die meist romantisch angelegt war. Eher Licht und wenig Horror. Letzteres fand ich bei Grimm eben interessant.
So hat es begonnen.

Wie hast du die Brücke von den Grimm‘schen Märchen zu mehreren tausend Jahren altem Stoff der griechischen Mythologie geschlagen?

Ich habe sie vor allem mit viel Recherche geschlagen. Zuerst gab es nur die Idee, ein Buch über Amazonen zu schreiben. Die fand auch der Verlag toll. Dann habe ich zwei Monate erst einmal nur Grundtexte gelesen, die Illias, von Philosophen, mythologische sowie wissenschaftliche Quellen und viele andere Texte. Nicht nur zu Amazonen selbst, sondern auch hinsichtlich der Historizität, zu Troja natürlich, zu skythischen Völkern, teilweise zu griechischer und antiker Kultur. Es war viel, aber ich habe das gebraucht, um in das Thema hineinzukommen. Es ist ein bisschen anders als die Märchen, bei denen man nur ein wenig über die Entstehungsgeschichte der verschiedenen Versionen nachliest. Die hat man ohnehin grob im Kopf, kann sie relativ frei adaptieren, steckt schon tief drinnen. Mythologie ist so viel komplexer, besonders die griechische.

Weil du es schon angesprochen hast. Amazonen finden in den klassischen Erzählungen nur wenig Erwähnung, sind gewissermaßen eine Randnotiz. Das hat dir die Möglichkeit geboten, sie genauer auszuarbeiten. Wie hast du deine Amazonen angelegt?

Ja, ich habe mich an einigen Quellen orientiert, aber es gab auch viel Quellenkritik. Ich wusste, sie stammten von vornehmlich griechischen Männern. Diese blicken auf ein fremdes Volk und da sind, finde ich, einige protorassistische Überzeichnungen dabei. So wie: „Ach, das sind alles unzivilisierte Menschenfresserinnen.“ Dem kann man nicht ganz glauben, wenn man darüber nachdenkt. Das ist so etwas wie Kriegspropaganda. Aber ich muss auch sagen, das, was in den Quellen drinsteckt, das Gebrüll von dem Barbarischen und dem Gewalttätigen und die Angst, die auf diese „wilden Frauen“ projiziert wird, ist auf morbide Weise ansprechend. Denn einerseits will man diesen alten Männern widersprechen. Man könnte sagen: „Nein, das war ganz anders“. Andererseits finde ich es interessant, gewissermaßen auch befriedigend festzustellen, dass sie Angst hatten. Dass diese Frauen in ihren Köpfen so machtvoll sind. Tatsächlich mache ich in diesem Buch eine Gratwanderung. Ich versuche schon, meine Amazonen als vielfältiger darzustellen, als diese Quellen es tun. Ich hinterfrage auch Sachen. Ein Leben ohne Männer konnte ich mir zum Beispiel nicht vorstellen. Einige andere Aspekte, wie die Blutrage, habe ich übernommen. Selbst wenn man das problematisieren könnte, habe ich dennoch gesagt, ich tu es nicht, weil ich es tatsächlich spannend finde, sich damit zu befassen.

Man merkt deinem Roman an, dass du dich von der romantisierten, auf männliche „Helden“ fokussierte Sagendarstellung deutlich entfernen wolltest. Einer Darstellung, in der Grausamkeiten oft in einem Nebensatz abgehandelt wurden. Hast du explizit vorgehabt, das zu tun?

Bei einigen Figuren wollte ich das. Mir war einfach klar, wenn ich aus der Sicht von Amazonen schaue, werden sie vieles ganz anders empfinden. Dann werden diese „Helden“ zu Antagonisten, und dann bewertet man viele Taten ganz anders, die ansonsten im Nebensatz ablaufen. Das betrifft nicht nur die Helden, sondern auch die Götter. In vielen modernen Adaptionen kommt zum Beispiel Zeus für seine Taten so gut weg. Taten, zu denen es im Internet sogar Memes gibt – Zeus macht ständig mit Frauen herum. Aber es ist ja nicht nur Herummachen. Es ist oft auch unfreiwillig.

Es gibt Entführungen, es gibt Vergewaltigungen.

Genau, und wenn man die Sicht von den Personen einnimmt, die die Entführten sind, die gegen sie kämpfen, dann wird alles ganz anders. Ich habe mir gedacht, hier darf man keine Angst haben, in das Thema hineinzugehen. Es gibt viele andere Adaptionen, und das ist auch gut so. Sie haben ihre positiven Interpretationen. Ich mache einfach eine andere, eine für sich interessante Perspektive. Es war jetzt auch nicht mein Ziel, alle Männer zu dämonisieren oder die griechische Mythologie zu ruinieren. Letzteres wäre schon ein wenig anmaßend. Ich fand es nur eine logische Konsequenz, aus Amazonensicht betrachtet. Soweit ich das anhand der Rückmeldungen sehen konnte, hat das für viele funktioniert.

Du hast in deinem Roman auch bewiesen, dass es durchaus möglich ist, innerhalb einer Erzählung Neopronomen für nichtbinäre Menschen einzubinden. War dir das, neben dem zentralen Fokus auf die Amazonen selbst, ein Bedürfnis?

Was mir auf jeden Fall ein Bedürfnis war, war mehr Geschlechtervielfalt als Männer und Frauen zu zeigen. Es gibt ganz unterschiedliche Meinungen von Leuten aus nicht-binären Communities dazu. Ich habe mit vielen von ihnen und auch mit Sensitivity Readers gearbeitet, aber es ist natürlich ein diffiziles Thema, bei dem man so viel mehr hätte machen können. In meinem Roman betrifft es nur ein paar wenige Nebenfiguren. Da sind so viele Nuancen, die gar nicht richtig berührt worden sind. Aber dass es zumindest eindeutig sichtbar da ist, fand ich wichtig, weil die bekannte Adaption von Amazonen oft auf einen Kampf zwischen Mann und Frau hinausläuft, ähnlich, wie auch in der Moderne Geschlechterkampf oft reduziert wird als Kampf zwischen Mann und Frau, obwohl es viel, viel mehr gibt. Es ist wichtig anzuerkennen, dass es andere marginalisierte Geschlechter existieren, wie nichtbinäre Menschen, transgender Personen oder solche, die weder richtig in die eine oder andere Kategorie fallen, genauso wie intergeschlechtliche Menschen, die in meinem Buch bis auf einen Nebensatz gar nicht vorkommen.
Das Neopronomen selbst war eigentlich nicht von Anfang an eingeplant. Ich wollte für Iphito weder „sie“ noch „er“ verwenden. Für einen englischen Text hätte ich „they“ benutzt. Also habe ich nach etwas im Deutschen gesucht, das „they“ ersetzt. Zuerst habe ich gedacht, ich lasse Iphito im Plural reden. Das steckt auch ein wenig in der Bezeichnung „Vielselige“, wie Iphito und einige andere sich bezeichnen. Wir haben dann aber beim Testlesen festgestellt, dass es nicht so gut funktioniert. Da meinte mein Sensitivity Reader, dass vielleicht ein Neopronomen helfen würde. So sind wir dann auf „sier“ gekommen, und das funktioniert wirklich gut. Ich habe mich danach oft gefragt, ob es deshalb so gut klappt, eben weil es ein phantastischer Text ist. Bis auf eine vielleicht leichte Irritation im ersten Moment habe ich von cisgender Personen keine negativen Rückmeldungen erhalten, dass es unleserlich sei, aufgedrückt oder Ähnliches. Darüber bin ich sehr froh.

In „Die Götter müssen sterben“ stellen die Amazonen in vielerlei Hinsicht das aufgeklärteste Volk dar. Im Gegensatz zu anderen, erkennbar bei Achilles und Patroklos, akzeptieren sie Homosexualität und Queerness, leben Polyamorie und akzeptieren andere ungeachtet ihrer Herkunft oder Hautfarbe. Dennoch gibt es eine Stelle, die zum Nachdenken anregt. Es wird die Tradition angesprochen, dass Amazonen männliche Neugeborene töten. Und dass man anhand von Geschlechtsmerkmalen neugeborene Vielselige (eben zum Beispiel Iphito, das tanzenden Schwert) nicht erkennen kann. Wolltest du hier aufwerfen, dass sich jede Gesellschaft, auch wenn sie weiterentwickelt sein mag als andere, immer die Notwendigkeit hat, sich mit ihrem Volk weiterzuentwickeln?

Erst einmal vielleicht, wie ich die Amazonengesellschaft wahrnehme. Meine Kollegin Anna Zabini hat das Buch in meinen Augen sehr gut zusammengefasst. Auf Twitter schreibt sie, dass darin Utopie und Entzauberung aufeinandertreffen. Ich glaube, dass die Amazonengesellschaft in einigen Aspekten utopisch anmutet, in Hinblick auf Geschlecht, Sexualität und Herkunft. Aber ich empfinde sie tatsächlich nicht als eine bessere oder gar eine ideale Gesellschaft. Das habe ich auch im Nachwort betont, dass es sich um keine Utopie handelt. Nicht nur die Praxis der Jungentötung ist natürlich falsch – und sie ist auch transfeindlich, das stimmt. Es ist immer noch eine Gesellschaft, wo erst von einem binären System ausgegangen wird. Geschlecht wird bei Geburt zugewiesen. Erst danach können Leute sagen: „Ich bin aber anders.“ Dann findet die Akzeptanz statt. Das meinte ich mit, „da hätte man noch viel mehr machen können“, und da habe ich vielleicht etwas verpasst: Jemand wie Iphito hätte diese Praxis nochmal offen kritisieren können, als Plotpunkt. Das habe ich eher indirekt gezeigt, mit einer Figur wie Kaystros. Ich glaube, niemand verlässt das Buch und denkt sich: „Diese Tradition ist eine gute Idee“. Natürlich nicht. Man lernt ja Figuren kennen, die deutlich darunter leiden. Aber vielleicht hätte man nochmals explizit ansprechen können, was neben dem Mord darüber hinaus falsch läuft. Für mich ist diese Gesellschaft, was Geschlecht angeht, in einem Umbruch. Es gibt zuerst die Geschichte mit den Ahninnen, die an die Macht kommen. Alle Konflikte werden zuerst einmal Mann gegen Frau gedacht. Die Frauen ermächtigen sich und man denkt zunächst, das war’s. Aber so ist es eben nicht. Auch Göttinnen wie Artemis sind unterdrückerisch. Sie ist ja „nur“ die Schutzherrin der Frauen und Kinder, alle anderen sind ihr auch egal. Dementsprechend ist das überhaupt keine geschlechtlich ideale Gesellschaft. Gleichzeitig haben wir dadurch, dass Kriegerinnen einen hohen Stellenwert haben, eine Verknüpfung von Krieg und Gewalt mit Ansehen. Entsprechend gibt es viele Figuren, die psychisch darunter leiden. Es gibt auch Sklaverei als Nebenprodukt dieser Kultur, deren schreckliche Auswirkungen wir anhand einer bestimmten Figur illustriert sehen.
Die Gesellschaft ist vielleicht in einigen Aspekten utopisch, aber sie ist wirklich nicht ideal für mich. Sie ist einfach nur anders. Ich denke, viele sind an das Buch herangegangen und waren ein bisschen irritiert, weil sie erwartet haben, dass die Amazonen die bessere Gesellschaft haben, vielleicht sogar eine perfekte Gesellschaft. Aber das war nie so angelegt.

Deine „Galgenmärchen“ sind im Selfpublishing erschienen, dein neuer Roman bei Knaur. Wie ist es dazu gekommen?

Sehr ungewöhnlich: Knaur kam auf mich zu.
Zwei meiner Galgenmärchen („Kindsräuber“ und „Hexensold“) waren für den Seraph nominiert. Sie kamen beide in die Finalrunde für den besten Independent-Titel. Dort haben Leute aus dem Knaur Verlag die Texte gelesen und für gut befunden. Liza Grimm war damals Teil der Jury und auch Lektorin bei Droemer Knaur. Sie hat dann, kurz bevor sie den Verlag verlassen hat, einige Leute angeworben. Darunter war auch ich. Eines Tages kam die Anfrage: „Kannst du dir vorstellen, etwas mit uns zu machen?“
Zunächst ging es um ein paar alte Projekte, die aber alle nicht gepasst haben. Schließlich sollte ich Ideen unter einigen Vorgaben vorstellen. Eine davon war, es sollte für Erwachsene sein. Daher ist dieses Buch thematisch definitiv ab 18.
Ich habe mehrere Pitches eingesandt, zuerst Märchenadaptionen für dunkle Märchen. Da gab es auch ein paar schöne Ideen. Ich hatte eine Idee für eine Horror-Meerjungfrau, für eine Pinocchio-Adaption auf Dark Fantasy, und eben die Amazonen. Dann hieß es: „Das da!“, und ich bekam den Vertrag zugeschickt. Das war wirklich großartig.

Du bist neben deinen Aktivitäten im Bereich Literatur in Studium, als Autorin und Lektorin auch Sängerin in einer Power-Metal Band mit dem Namen „Nightmarcher“ aktiv. Wie lange singst du schon?

Superlange. Ich glaube, seit ich zwölf bin. Da hatte ich meinen ersten Gesangsunterricht.
Ich komme aus einer Musikerfamilie. Mein Vater, Thomas Bendzko, ist Jazz-Trompeter und so habe ich viel mit Musik und musikalischer Bildung zu tun gehabt. Auch habe ich meine Matura in klassischem Gesang gemacht. Danach habe ich alles Mögliche ausprobiert. Ich habe im Musical gesungen und ein paar kleinere Rollen in der Oper gehabt. Als ich 2014 nach Wien gezogen bin, habe ich mir gesagt, ich möchte gerne eine Rockband haben. Und seitdem mache ich das.

Würden deine Amazonen zu deiner Musik passen – oder umgekehrt?

Ja, total (lacht).
Ich finde das Buch ist von seinem Esprit her „sehr Metal“. Ich glaube, man könnte auch einen Manowar–artigen Text darüber schreiben. Es kommt ja ein Kriegsgesang vor, den ich tatsächlich für das Hörbuch bei Audible vertont habe. Das geht schon gut Hand in Hand. Amazonen-Metal ist definitiv eine Marktlücke!

Nora Bendzko
Nora Bendzko
Nora Bendzko
Nora Bendzko

Was sind deine nächsten Pläne?

Ursprünglich war „Die Götter müssen sterben“ als Einzelband geplant. Ich hätte trotzdem Ideen für mehr. Ich weiß noch nicht, ob ich wieder etwas für Knaur machen werde oder ob meine Agentin etwas ganz Neues an Land ziehen wird. Vielleicht kehre ich auch ins Selfpublishing für ein weiteres Galgenmärchen zurück. Das wird die Zeit erst sagen. Ich lasse das auf mich zukommen. Es gibt definitiv mehr, die Ideen sind da und werden nicht ausgehen.

Im Bereich Fantasy oder auch in anderen Genres, eventuell Science-Fiction?

Ich denke, erst einmal werde ich im Dark-Fantasy-Bereich bleiben, aber ich habe tatsächlich auch Science-Fiction in der Schublade, ein Dystopie mit Robotern. Wer weiß? Ich mag generell die Phantastik als großen Dachbegriff. Und solange es phantastisch ist, kann ich mich für vieles begeistern.

Dann sind wir sehr gespannt auf die nächsten Veröffentlichungen. Ich bedanke mich für das Interview!

Die Götter müssen sterbenDie Götter müssen sterben


Taschenbuch, 512 Seiten
Droemer Knaur, Juni 2021
ISBN: 978-3-7432-0654-0

Zur Rezension

 

Fotos von Michael Seirer Photography
Nora Bendzko über Amazonen und Phantastik