Sternstunden der Kartografie


Die abenteuerliche Geschichte der Entdeckung und Vermessung der Welt
von Wolfgang Seidel
Rezension von Elisabeth Binder | 16. Oktober 2016

Sternstunden der Kartografie

Hand aufs Herz: wer erinnert sich noch an die dicken Autoatlanten, die in keinem Mittelklassewagen fehlen durften und mit deren Hilfe man in den meisten Fällen sicher ans Ziel kam? Innerhalb der letzten zehn Jahre landete dieses kulturhistorische Artefakt auf den Müllhaufen der Geschichte. Die Vermessung der Welt geht zwar weiter, aber die Geschichte verschwindet. Wolfgang Seidel möchte mit seinen „Sternstunden“ an diese lange und illustre Geschichte erinnern.

Die ersten erhaltenen und bekannten kartografischen Produkte waren Himmelskarten, die Aufzeichnung der Beobachtungen, was sich am Himmel im Laufe des Jahres ändert und wie sich damit Orientierung schaffen lässt. Diese Mittel der Orientierung dienten der Entdeckung und oft auch der Eroberung von unbekanntem Territorium. Die Landkarten entstehen zuerst als Welt-Bilder, die mit real vorhandener Topografie wenig, dafür umso mehr mit religiösen Vorstellungen zu tun haben, vor allem was das Zentrum der Karten betrifft. Im Zuge der immer weiter gehenden Entdeckungsreisen, ausgehend und finanziert von europäischen Königshäusern und Kolonialgesellschaften, lösen die Landkarten die Himmelskarten in ihrer Bedeutung ab. Mit Ende des 20. Jahrhunderts schließt sich dann der Kreis. Satelliten, also künstliche Himmelskörper, geben uns wieder die Orientierung vor. Inzwischen wächst eine Generation heran, die ihr Weltbild aus Google Maps und Google Earth bezieht und für die so etwas Ähnliches wie Landkarten hauptsächlich als Werbefläche und Hintergrundbild für die Augmented Reality von Pokémon Go dienen.

In diese grob umrissene Geschichte der Kartografie werden vom Autor noch allerlei Fakten mit teilweise weit hergeholten Bezügen eingestreut, die mit Astronomie, der Entwicklung der Naturwissenschaften und Entdeckungsreisen zu tun haben. Diese Einsprengsel tauchen oft unvermutet auf und sollen wohl auf Entwicklungen in den Naturwissenschaften verweisen, die zeitgleich mit dem Fortschritt in der Kartografie stattfanden. Der Zusammenhang ist aber oft nicht klar und das stört den Lesefluss mehr, als er ihn befördert. Ein Beispiel dazu: Das knapp sieben Seiten lange Kapitel zu mittelalterlichen Weltkarten beginnt im Palermo des 12. Jahrhunderts. Ein arabischer Geograf schreibt auf Einladung der staufischen Königs Roger eine Enzyklopädie mit Weltkarte. Und weil wir gerade in Palermo sind, folgt gleich noch ein Exkurs über den Mathematiker Fibonacci, der während der Herrschaft von Rogers Enkel Friedrich II ebenfalls in Palermo lebte und forschte. Dabei lernt man, dass die Fibonacci-Folge viele Naturphänomene beschreibt, „etwa die Anordnung von Samen im Blütenstand der Sonnenblume.“ (S. 101). Dem folgen dann im Stakkato noch drei weitere kurze Unterkapitel über andere berühmte Weltkarten aus der Epoche. Danach geht es ebenso abrupt mit dem Alexanderroman weiter. Ähnlich sprunghaft geht es im Rest des Buches zu.

Die im Untertitel angekündigte „abenteuerliche Geschichte“ bleibt bis zum Ende des Buchs ein leeres Versprechen. Dabei wird man das Gefühl nicht los, dass hier ein an der Materie mäßig interessierter Berufsschreiber seinen Zettelkasten, der aus Exzerpten von immerhin 13 (!) Werken Sekundärliteratur (siehe Literaturhinweise) besteht, in chronologischer Reihenfolge angeordnet als Buch verkauft. Gäbe es ein Register, dann würde das Buch noch als Nachschlagewerk durchgehen, aber auch dieses sucht man vergeblich. Schade eigentlich um die verpasste Chance.
Hinweis: bei dem Buch handelt es sich um die Taschenbuchausgabe des Buchs „Sternstunden“, das bereits 2014 als Hardcover erschienen ist.

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