Opferreigen

von Melanie Vogltanz
Rezension von Stefan Cernohuby | 09. Januar 2019

Opferreigen

Wenn man eine Aufgabe erhält, die viel Zeit erfordert, kann es schon sein, dass man ein geliebtes Hobby dafür opfert. Ebenso kann es vorkommen, dass man für die große Liebe eine Freundschaft opfert. Diese Formulierungen sind in den normalen Sprachgebrauch eingeflossen und man denkt kaum mehr darüber nach. Doch das Opfer – egal ob im heidnischen oder im biblischen Sinne – etwas ganz Anderes bedeuten können, wird einem selten vor Augen geführt. Melanie Vogltanz tut dies in ihrem Roman „Opferreigen“.

Schweigen kann genauso verletzen wie Worte. Gabriel schweigt sehr viel, seit seine Frau Clara vor Jahren gestorben ist – bei einem dummen Unfall mit einem Kabel. Besonders schweigt er gegenüber seiner Tochter Melissa, die mit ihm überhaupt nicht zurechtkommt und ihm schon vor geraumer Zeit den „Papa“ entzogen hat. Gabriel ist er nur, der ehemalige Schriftsteller mit der Schreibblockade. Ihre Wünsche und ihre Situation scheinen ihnen nicht zu beschäftigen. Genauso wenig, wie die Tatsache, dass sie sich immer mehr zurückzieht und sich gelegentlich selbst verletzt. Als sie eines Abends einem schwarzen Hund folgt, führt sie dieser zu einem heruntergekommenen Theater in einer kleinen Seitengasse in Wien. Sie macht die Bekanntschaft von Coppelius, dem Direktor, der dort ein einzigartiges Ballettstück aufführt und Melissa dazu einlädt, daran Teil zu haben. Nachdem sie sich ein letztes Mal mit ihrem Vater streitet, beschließt sie diese Einladung anzunehmen. Ein Fehler.
Nachdem Melissa verschwunden ist und tagelang nicht auftaucht, wendet sich Annett, Melissas Lehrerin, an ihn. Ihre eigene Tochter ist einst selbst verschwunden und sie weiß, was Gabriel durchmacht und versucht ihm zu helfen. Doch Alkohol, Verzweiflung und Irrsinn scheinen nahe beieinander zu liegen und machen Gabriels Nachforschungen zu einer psychedelischen Abenteuerreise an der Grenze des Wahnsinns - und darüber hinaus. Und auch Melissa kämpft an einem Ort ums Überleben, der in einer Zwischenwelt angesiedelt zu sein scheint. Aber irgendwann wird es Zeit für ein Frühlingsopfer...

„Opferreigen“ kann man auf unterschiedliche Arten interpretieren. Als düsteren Horrorroman, der mit verschiedenen Elementen aus den Genres Horror und Psychothriller spielt. Doch das wäre zu kurz gegriffen, denn das Werk bedient sich zahlreicher literarischer Vorlagen, beziehungsweise lässt es Elemente aus Werken einfließen. Da ist unter anderem das „Frühlingsopfer“ von Strawinsky (Im Original „Le sacre du printemps“), in dem sich immer eine Balletttänzerin zu Tode tanzen muss. Da gibt es den „Sandmann“ von E.T.A. Hoffmann, den zu kennen durchaus nicht schadet, und nicht zuletzt den ewigen Kampf zwischen Himmel und Hölle, Gut und Böse sowie geistiger Klarheit und absolutem Wahnsinn. All diese Bestandteile sind zu einem großen Ganzen vermengt, bei dem der Leser meist im Unklaren ist, ob es sich um Handlung, Wachtraum, Illusion oder Halluzination handelt. Blut, Gewalt und Tod liegen hier sehr knapp beieinander – und nicht immer scheint der Tod das Ende darzustellen. Insgesamt ergibt das einen äußerst dichten Roman, der den Leser kaum zur Ruhe kommen lässt. Er enthält Sprünge, Perspektivwechsel, seltsame Nebencharaktere und offene Fragen, die jeder Leser für sich selbst beantworten muss.

„Opferreigen“ von Melanie Vogltanz ist ein äußerst dichter, verwirrender Horrorroman, der nicht nur auf einige Elemente aus klassischer Literatur und Musikgeschichte anspielt, sondern diese zu einem integralen Bestandteil der Handlung macht, die viele verschiedene Ebenen besitzt. Einige Implikationen der Handlung sind offenbar nicht einmal dem Protagonisten selbst bewusst, auch der Leser muss sie Schicht für Schicht freilegen. Und vielleicht wäre das Werk so beim zweiten Mal lesen noch erschreckender, als beim ersten. Das alles macht das Buch zu einem Vertreter des Horrorgenres, der weniger für Splatterfans geeignet ist, als vielmehr für Leser, die sich freuen immer noch eine weitere Ebene eines Werks zu entdecken. Als kleiner Zusatz: Unsere Redaktion würde das Buch erst ab 16 Jahren empfehlen.

Details

Bewertung

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