Nordische Mythen und Sagen
von Neil Gaiman
Rezension von Stefan Cernohuby
| 21. März 2017
Manche Geschichten wurden schon tausende Mal und auf tausende Arten erzählt. Besonders wenn es sich um Überlieferungen handelt, die von Generation zu Generation weitergegeben wurden. Jene über die nordische Götterwelt wurden von Snorri Sturluson im 13. Jahrhundert zusammengetragen und aufgeschrieben und sind heute als „Edda“ bekannt. Doch auch in der Populärliteratur und anderen Medien gibt es Geschichten, die von Odin; Thor und Loki erzählen. Nun hat sich der britische Schriftsteller Neil Gaiman der Materie angenommen. Das Ergebnis ist ein Buch namens „Nordische Mythen und Sagen“.
Nach einem kurzen Vorwort des Autors, der seinen Zugang zur Thematik erklärt folgt erst eine kurze Bestandsaufnahme. Wie sehen die Welten aus, wie sind sie miteinander verbunden und wer sind die wichtigen Charaktere der nordischen Mythologie?
Dann wird man mitten in die Geschichten, Abenteuer und Gleichnisse geworfen, welche die Sagen ausmachen. Man trifft auf viele verschiedene Geschichten, aber die meisten haben Odin, Thor und Loki zum Thema. Odin ist der weise Göttervater, der sich selbst an den Weltenbaum geopfert hat – der gehängte Gott. Auch ein Auge gab er, für weitere Weisheit. Thor ist der stärkste und mutigste Krieger der Asen ins Asgard. Er hat bereits überall Kriege ausgefochten, ist aber trotzdem nicht der Schlaueste. Das ist sein Hauptproblem. Denn entweder fällt er auf einen Streich von Loki herein oder benötigt Loki, um Probleme zu lösen. Loki ist der Trickser, kein Ase und doch göttlich. Er ist findig, spitzzüngig und alles Gute, das er tut, bringt auch immer Böses hervor. Wenn er und Thor unterwegs sind, kann buchstäblich alles passieren.
Geschichten aus allen Zeitperioden der Asen werden erzählt – auch auf deren Zukunft, beziehungsweise deren Ende wird eingegangen. Ragnarök, das Schicksal der Götter, ist es auch, das den Band abschließt.
Kennt man die Geschichten aus anderen Händen, sind sie einander ähnlich, aber doch etwas inkonsistent. Die Edda selbst ist natürlich am nähesten an der Materie, aber zeigt eine sehr undifferenzierte Sicht auf die Götterwelt. Andere Autoren taten es entweder in unterschiedlichem Stil oder eben zu einem bestimmten Zweck. So war es gerade die nördliche Mythologie, die im letzten Jahrhundert zu einem politischen Mittel missbraucht wurde. Man konnte Geschichten von Kraft, Familie und Ehre erzählen – etwas was sehr gut zu bestimmten Gedankengut passte. Neil Gaiman lässt die wertende Beobachterperspektive komplett beiseite und lässt den Leser die Charaktere begleiten, die allesamt Stärken und Schwächen besitzen, so wie Menschen. Es gibt Stellen an denen man auflacht, etwa wenn Thor feststellt: „Wenn immer etwas im Argen liegt, nehme ich als erstes an, dass es Lokis Schuld ist. Das spart viel Zeit.“ Man merkt aber an, dass die Motivation der Charaktere selten rein schwarz oder rein weiß ist. Gerade Loki ist ein Paradebeispiel dafür. Er hilft, wenn er darum gebeten wird und begibt sich für die Asen in große Gefahren. Und doch weiß er, dass seine Kinder einst Ragnarök herbeiführen werden. So ist auch aus einer modernen Perspektive kein Wunder, dass er letztendlich die Seiten wechselt.
Obwohl Gaimans Interpretation der Edda erfrischend ist und sich die Texte gut lesen, ist es dennoch nicht viel Neues, das er dem Leser präsentiert. Solange einem das bewusst ist, kann man mit „Nordische Mythen und Sagen“ sicherlich seine Freude haben.
Neil Gaiman liefert mit „Nordische Mythen und Sagen“ ein Werk ab, das sich der entsprechenden Götterwelt widmet und alte Geschichten in konsistentem modernem Stil erzählt und dabei jegliche Deutung der Materie beiseitelässt. Das beschert dem Leser unterhaltsame Lesezeit, allerdings sind die Inhalte natürlich bekannt. Spannende neue Geschichten über Thor und Loki findet man hier nicht – das sollte dem potenziellen Käufer klar sein.
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