Das Leben und Sterben der Flugzeuge

von Heinrich Steinfest
Rezension von Elisabeth Binder | 27. November 2016

Das Leben und Sterben der Flugzeuge

„Ein Buch ist nichts anderes als eine Vorbereitung auf das Sterben – und auf das, was danach kommt, gleich ob es sich um ein ewiges Gähnen, eine Wiederholung, eine Verwandlung oder um eine Party handelt, eine Party, bei der endlich niemand zu kurz kommt.“ (S. 10) So endet der Prolog von „Das Leben und Sterben der Flugzeuge“ und so beginnt eine fast 600-seitige Tour de force durch das Steinfest-Imaginarium.

Quimp ist ein junger Spatz (Haussperling) aus Paris, der im Gare Montparnasse lebt und sich vorwiegend von den Croissantkrümeln eines nahegelegenen Cafés ernährt. Wie es bei Menschenspatzen so der Fall ist, können sie die menschliche Sprache verstehen. So trifft ihn der Vorwurf eines Mädchens, dass Spatzen so wie Quimp eigentlich gar nicht mehr fähig seien, sich selbst zu ernähren, doch hart. Beim ersten Versuch sich in einem Park mit artgerechtem Essen zu versorgen, gerät Quimp in ein Abenteuer, das ihn quer durch Europa führt. Er begibt sich gemeinsam mit dem ältesten und weisesten Spatzen, Pinesits, auf die Suche nach den Sperks, einer spatzischen Kriegerkaste, um diese vor einem Angriff einer französischen Geheimorganisation zu warnen, die es auf die federleichte, aber extrem widerstandsfähige Rüstung der Sperks abgesehen hat.

Kommissar Blind ist ein Kriminalist aus München, gelernter Germanist, der seit einer Herztransplantation mit einem österreichischen Schifahrerherz dem organisierten Verbrechen hinterherläuft. Er ist ein attraktiver Mann, der aber offenbar aus diesem Grund noch nicht die große Liebe gefunden hat. Blind wird von seinem Vorgesetzten beauftragt, der Witwe eines Industriellen die fixe Idee auszureden, dass ihr Mann ermordet wurde und nicht bei einem Unfall ums Leben kam. Auch dieser harmlose Anlass mündet, wie bei Quimp zuvor, in ein internationales Abenteuer.

Allmählich wird klar, dass Kommissar und Spatz ihre gegenseitigen Traumwelten bevölkern, genauer gesagt sind sie sogenannte Traumpartner, also der eine erlebt Abenteuer während der andere schläft - und umgekehrt. Im Laufe der Geschichte tauchen immer mehr solcher Traumpartner-Paare auf, auch solche, die schon ihren Partner verloren haben, also seither traumlos ihren Schlaf verbringen. Oder solche, die mit dem Traumpartner nicht unbedingt in Harmonie leben. Bei Quimp-Blind ist das jedoch nicht der Fall, die beiden beschützen sich gegenseitig so gut es geht und letztendlich rettet einer dem anderen das Leben, auch wenn sie dabei ihren Welten vertauschen müssen. Der Spatz darf in der Wachwelt seine Liebe finden und eine Familie gründen, für den anderen endet das Leben in der Traumwelt mit einem Versprechen auf Liebe.

Wer sich an dieser Stelle fragt, was es mit den titelgebenden Flugzeugen auf sich hat, findet im letzten Drittel des Buchs eine Erklärung. Bis dahin sollten die LeserInnen auch schon genügend Vertrautheit mit dem Phänomen des „Wischens“ haben, einer anlassbezogenen Vertauschung von Personen, Dingen oder Ereignissen zwischen den beiden Welten. So wird zumindest auf Seite 489 schlüssig erklärt, was mit Flug MH370 und dessen rätselhaftem Verschwinden auf sich hat.

Bereits geübte Steinfest-LeserInnen werden im „Leben und Sterben der Flugzeuge“ einige bekannte Motive wieder erkennen, nämlich, dass Kriminalisten durchaus eine Neigung zur Kunst haben können, dass es in Gebäuden verborgene Stockwerke gibt, dass Liebe und Tod immer sehr eng beieinanderliegen und dass nichts ganz genauso ist wie es scheint. Wer in all den Verwirrungen den Faden verliert, bekommt mit den liebevoll gezeichneten Illustrationen des Autors in den Einbandenkeln eine Hilfestellung zur zeitlichen und räumlichen Abfolge der Geschichte.

Abseits von den fantastischen Verwirrungen zwischen der Blind-Welt und der Quimp-Welt streut Steinfest immer wieder tagespolitisch aktuelle Themen in seinen Roman. So auch die Terroranschläge 2015 in Paris, deren sozialpolitische Ursachen er mit einer abgelegenen, aber umso effektiveren Metaphern auf den Punkt bringt: „In diesen Tagen dominierte der Terror. Es hatte Anschläge in Paris gegeben, das muslimische Gespenst ging um in Form von all den Individuen, deren Frustration über ihr Leben die Frustration von Raupen war, Raupen, denen jeglicher bürgerlicher Weg versperrt war, ihr Larvenstadium zu beenden. Und die darum umso empfänglicher für die Illusion waren, zu Gotteskriegern verwandelt, das luftige Dasein der Schmetterlinge zu führen. Flügelschlagend Angst zu verbreiten und mordend ins Himmelreich zu gelangen.“ (S. 103)

„Das Leben und Sterben der Flugzeuge“ hat durchaus Längen, jedoch nur dann, wenn man sich bloß auf die Abenteuergeschichte einstellt. Wer jedoch auch messerscharfe Formulierungen, launig-humanistische Kommentare zum Zeitgeschehen und liebevolle Skurrilität zu schätzen weiß, wird dieses Buch von Anfang bis Ende genießen. Könnte es vielleicht sein, dass Heinrich Steinfest der ressentimentlose Traumpartner von Fritz von Herzmanovsky-Orlando ist?

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