Die Fürsten der See und der Erde

Das Erwachen der Meere

von Jorina C. Havet
Rezension von Stefan Cernohuby | 10. Mai 2022

Das Erwachen der Meere

Mythen und Legenden haben oft einen wahren Kern. Wenn viel Zeit verstreicht, gerät dieser jedoch meist in Vergessenheit, ohne dass folgende Generationen wieder in Kontakt mit den Auslösern für die überlieferten Geschichten kommen. Jorina C. Havet hat in „Das Erwachen der Meere“, dem ersten Band ihrer Reihe „Die Fürsten der See und der Erde“, eine Welt vorgestellt, in der es gerade von Vorteil wäre, nicht alle Erzählungen der Alten als Aberglaube abzutun.

Gain von den Mannalen ist ein Fürstensohn und hat nicht nur ein Geburtsrecht, sondern auch damit verbundene Pflichten. Jedoch ist er zur großen Enttäuschung seiner Familie kein großer Krieger geworden. Im Gegenteil – er erweist sich im Umgang mit den meisten Waffen als reichlich unbeholfen. Stattdessen ist er ein Bote und übermittelt wichtige Botschaften zwischen Fürstentümern. Gerade ist er unterwegs, um eine versiegelte Nachrichtenrolle an Sabeta Dhersak und ihre Geschwister zu überbringen. Sie enthält mehrere Anweisungen von deren Vater und den anderen amtierenden Fürsten, die nicht nur deren Leben, sondern auch sein eigenes maßgeblich beeinflusst. Denn es gibt mehrere Botschaften, inklusive dem Auftrag, einen Teil der Nachriten ungeöffnet an ein anderes Volk weiterzugeben. Und schließlich soll Sabeta den hoffnungslosen Tollpatsch Gain zum Krieger ausbilden. Doch das ist längst noch nicht alles, was passiert. Ein ausbrechender Krieg lässt den geehrten Gast plötzlich zu einer Geisel werden, ein Attentat erschüttert die Fürstenfamilie Dhersak und zu allem Überfluss scheinen uralte Legenden plötzlich wahr zu werden und ein Erwachen der Meere und magischer Kreaturen bahnt sich an …

Phantastische Settings haben einen Vorteil, der gleichermaßen zum Nachteil werden kann. Sie bieten die Möglichkeit, eigene Gesellschaftsstrukturen einzubinden und neue Ansätze zu verfolgen, gehen dabei aber sehr oft den „einfachen Weg“ und entlehnen ihre Bausteine klassischen patriarchalen Strukturen, wie sie beispielsweise im Mittelalter vorgeherrscht haben. Jorina C. Havet geht hier einen deutlich anderen Weg. Schon zu Beginn des Romans, als Gain sich auf einem Schiff befindet und die ganze Besatzung Angst vor der Kapitänin hat, wird angedeutet, dass hier einiges anders läuft. Deutlicher wird dann alles etwas später, als eine Szene in einem Bordell angesiedelt ist und dort sowohl unter Gästen wie auch Angestellten absolute Gleichberechtigung herrscht, unabhängig des jeweiligen Geschlechts. Man merkt, dass die Autorin viel Zeit investiert hat, um nicht nur eine scheinbar gleichberechtige Gesellschaftsstruktur zu schaffen – auch wenn Fürsten natürlich wieder eine andere Rolle innehaben und sich über das „gemeine Volk“ erheben. Selbst wenn der Vorstellungsprozess der Charaktere an einer Stelle etwas länger dauert, schafft es „Das Erwachen der Meere“ gleichzeitig, die wichtigsten Persönlichkeiten einzuführen, das Setting darzulegen und schließlich auch alle Probleme, mit denen sich die Charaktere in weiterer Folge auseinandersetzen müssen, überzeugend aufzuarbeiten. Kartenmaterial, Herleitung zu Schriftzeichen und eine Diskussion über die Hintergründe von Gedichten und Übersetzung runden das Werk ab und bergen erste Ansätze eines High-Fantasy-Epos. Es handelt sich um einen Roman, der zu Recht auf der Nominierungsliste für den besten Independent-Titel des phantastischen Buchpreises Seraph gestanden hat.

„Das Erwachen der Meere“ ist der erste Roman der Reihe „Die Fürsten der See und der der Erde“ von Jorina C. Havet. Mit einem überzeugenden Weltkonstrukt, glaubwürdigen Charakteren und einer nahenden Bedrohung investiert das Werk zwar viel in den Aufbau des Settings und der Beziehungen der Charaktere zueinander, weiß aber trotzdem beinahe auf allen Ebenen zu überzeugen. Es ist ein phantastisches Werk, das zu Recht für den Seraph nominiert war und man jedem Leser, jeder Leserin guter Fantasy nur empfehlen kann.

Details

Bewertung

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