Private Eye

Private Eye - Vierte Edition

von Jan Christoph Steines, Sylvia Schlüter, Thilo Bayer, Ulrike Pelchen
Rezension von Stefan Cernohuby | 04. August 2009

Private Eye - Vierte Edition

Manche Dinge brauchen einfach ihre Zeit. Dazu zählen auch die unterschiedlichen Auflagen eines Rollenspiels. "Private Eye" entstand vor etwa 20 Jahren, erschien vor 15 Jahren in der dritten Edition und tauchte dann ein wenig unter. Im Jahr 2008 erschien die vierte Auflage des Rollenspiels bei "Redaktion Phantastik" in Form eines immerhin 255 Seiten starken Hardcovers, das sich auf den ersten Blick qualitätstechnisch nicht von Produkten arrivierterer Anbieter unterschiedet. Um nähere Erkenntnisse gewinnen zu können, wurde uns ein Exemplar des Grundregelwerks zur Verfügung gestellt. Eine Aufgabe, der wir uns gerne widmen.

Nach einer kurzen Einleitung, die einerseits über die Geschichte von "Private Eye" aufklärt und andererseits ein wenig über die Philosophie des Spiels berichtet, wird auf das Erstellen eines Spielercharakters eingegangen. Hier fällt schon einmal auf, dass die damit zusammenhängenden Regeln sehr minimalistisch sind und laut Verlag auch sein sollen. So findet man eine Mischung aus Prozent- und Stufenkonzept. Es gibt insgesamt sechs Attribute, von denen Fertigkeiten direkt abgeleitet werden. Beide Aspekte kommen einem auf jeden Fall schon etwas bekannt vor und stellen erfahrene Rollenspieler sicherlich vor keine Probleme. Bei Proben müssen Fertigkeitswerte mit einem hundertseitigen Würfel unterboten werden, um sie erfolgreich zu bestehen. Für Kämpfe gibt es ebenfalls Regeln, es wird aber klar darauf hingewiesen, dass "Private Eye" nicht darauf abzielt, ein kämpferisches System zu sein. Aus diesem Grund führen Kämpfe auch relativ schnell zum Tod, weswegen man sie vermutlich eher meiden wird. Schnell hat man das eigentliche Regelkapitel hinter sich gebracht, danach wird dann auf die unterschiedlichen Berufe eingegangen, die man vorbereitet hat. Deren Beschreibungen sind ziemlich genau, der viktorianischen Zeit angemessen und besitzen zahlreiche Querverweise auf den ausführlichen Hintergrund. Zusätzlich gibt es weitere Berufe, die zumindest als Ansatz dargeboten werden, falls man in den "Standardberufen" nicht das findet, was man sucht.
Wie schon im vorherigen Absatz erwähnt, werden nicht nur Regeln und Berufe vorgestellt sondern zahlreiche und sehr ausführliche Hintergrundinformationen zur Verfügung gestellt. Begonnen wird mit dem viktorianischen London. Von der Lage über das Klima über die Bevölkerung, die Aufteilung in unterschiedliche Distrikte, Post und Bahn, die verschiedenen gesellschaftlichen Schichten - man kann eigentlich nur begeistert sein. Nahtlos wird auf das Stadtlexikon übergegangen, in dem spezielle Orte, Geschäfte und wichtige Personen und Persönlichkeiten der damaligen Zeit behandelt werden.
Für ein Detektivrollenspiel ist eines natürlich unverzichtbar: Das Verbrechen. So gibt es ein eigenes Kapitel, das sich der Kriminalität widmet und dabei beinahe 50 Seiten einnimmt. Sowohl unnatürliche Todesarten als auch ihre Aufklärung werden hier ausführlich behandelt.
Fehlen darf natürlich auch ein Einführungsabenteuer nicht. "Familienglück" heißt das gute Stück und präsentiert sich dem Spielleiter als detailliert ausgearbeitet und interessant. Abgerundet wird das Werk durch einige ausgefüllte Beispielcharaktere und eine sehenswerte, großformatige Stadtkarte Londons aus der viktorianischen Zeit.

Zur Beurteilung des Rollenspiels muss man unterschiedliche Maßstäbe anlegen. Zum einen handelt es sich bei der Redaktion Phantastik um keinen Großverlag. So wurde das vorliegende Regelwerk nicht innerhalb einiger Monate von einem großen Team erarbeitet, sondern von einigen begeisterten Fans über mehrere Jahre hinweg. Dementsprechend erfreut ist man über die Hintergrundinformationen, den Stadtplan und das Stadtlexikon. Im Gegenzug können die Regeln nicht wirklich überzeugen. Für manche Spieler könnte ein Stufenkonzept bereits einen Anachronismus darstellen, andere werden über die Kampfregeln die Nase rümpfen. Zu schlechter Letzt könnte sich ein handelsüblicher "Dungeons&Dragons"-Regelexperte über die gerade einmal 18 Seiten ereifern, die wirklich viel Raum für Interpretationen lassen. Doch gerade dieses vermeintliche Manko kann man mit gutem Gewissen abtun. "Private Eye" lebt nicht von seinen Regeln oder vom ausgefeilten Kampfsystem. Vielmehr ist es das Detektivwesen im viktorianischen Zeitalter, das die Stimmung des Spiels ausmacht. Dampfende Lokomotiven, neblige Gassen und geheimnisvolle Kriminalfälle, die größtenteils durch den Verstand gelöst werden und nicht durch Muskeleinsatz.
Durchaus ankreiden kann man dem Verlag, dass trotz des eigentlich gelungenen Layots - insbesondere des Covers von Manfred Escher -, ein großer Fehler gemacht wurde. So ragen viele Abschnitte des Textes in eine stilvolle Seitenverzierung, was es mitunter schwierig macht, den Text zu lesen. Zudem gibt es zwar ein Einführungsabenteuer und eine schier unendliche Menge an Hintergrundmaterialien, aber keine Tipps für den Spielleiter, wie man eine viktorianische Detektivrunde eigentlich angehen sollte. Zum Glück sind viele Spielleiter erfahren mit dem Rollenspiel Cthulhu, das auch auf historische Fakten und Stimmung setzt. So sollte es zumindest für in dieser Hinsicht erfahrene Meister kein Problem sein, die entsprechende Umgebung und das notwenige Flair aus dem Dunkel der Geschichte auferstehen zu lassen.
Zusammenfassend kann man sagen, dass "Private Eye" zwar nicht das beste Regelsystem besitzt, wobei aber schon allein die Hintergrundinformationen über die viktorianische Zeit, sowie Detektive und Verbrechen dieser Epoche das Manko wieder gut machen. Genauso gelingt es den gewissenhaft recherchierten Informationen und den Unterstützungsmaterialien einen allgemeinen Layoutfehler vergessen zu machen. Selbst der Preis von knapp 38 Euro für ein Grundregelwerk kann definitiv überzeugen. Auch Cthulhu-Spielleiter sollten definitiv zugreifen, denn es scheint nicht schwer, ein wie hier gedachtes Detektivabenteuer mit einem anderen Rollenspiel zu verbinden.

Die vierte Auflage von "Private Eye" überzeugt zwar nicht durch Regeln, aber dafür durch Hintergrund, Recherche und Stimmung. Man merkt, wie viel Arbeit in diesem Band steckt. Daher ist das Werk nicht nur jenen Spielleitern zu empfehlen, die einmal ein neues Rollenspiel ausprobieren wollen, sondern auch jenen, die Rollenspiel um die Jahrhundertwende 1900 praktizieren. Denn für einen vergleichsweise bescheidenen Preis bekommt man hervorragend recherchierte Informationen. Und jenes Gesamtbild ist es, das den Kauf von "Private Eye" empfehlenswert macht.

Details

Bewertung

  • Gesamt:
  • Spannung:
  • Anspruch:
    Keine Bewertung
  • Humor:
    Keine Bewertung
  • Spieltiefe:

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