Infinity Net: Meine Autobiografie

von Yayoi Kusama
Rezension von Elisabeth Binder | 29. November 2017

Infinity Net: Meine Autobiografie

Der Piet Meyer Verlag hat sich auf Bücher spezialisiert, die LeserInnen einen persönlichen Zugang zu bildenden KünstlerInnen ermöglichen sollen und nun den 19. Band seiner "Kapitalenbibliothek" einer Künstlerin gewidmet, die hierzulande nicht ganz so bekannt ist, aber eine künstlerische Epoche entscheiden mitgeprägt hat. Yayoi Kusama hat ihre Autobiographie bereits im Jahr 2002 mit 73 Jahren veröffentlicht, die englische Übersetzung erfolgte 2011 und nun, 15 Jahre später, erfolgt eine Übersetzung des japanischen Originals ins Deutsche.

Kusama beginnt ihre Autobiographie mit ihrer Zeit in den USA, in der sie in einem Zeitraum von etwas mehr als 15 Jahren zu einem Star der damaligen New Yorker Avantgarde aufstieg und verschiedene Stilrichtungen entscheidend mitprägte. Mit einigen ihrer Bilder, 60 Seidenkimonos als Startkapital und unheimlich viel Mut im Gepäck fliegt Yayoi Kusama im November 1957 nach Seattle mit dem festen Entschluss, sich eine Existenz als Künstlerin aufzubauen. Das Japan der 50er Jahre, das wirtschaftlich noch immer mit den Folgen des verlorenen Kriegs kämpfte, war ihr zu eng geworden, bot ihr, vor allem auch als Frau, keine Möglichkeit mit Kunst zu überleben. Nach einer erfolgreichen Ausstellung in Seattle zieht sie weiter nach New York und hungert sich im wahrsten Sinn des Worts in den ersten Jahren durch. Dafür kann sie aber das tun, was sie immer schon wollte: von früh bis spät malen. Es entstehen die ersten Infinity Nets, großflächige Bilder mit einer sich unendlich wiederholenden und ausbreitenden Netzstruktur. Die Selbstauflösung ins Unendliche, die Kusama immer wieder erfährt, (ver)bannt sie mit ihren Bildern immer wieder aufs Neue.

Erst im zweiten Kapitel erfährt man, wie sehr die Übersiedlung eine Flucht nach vorne und eine lebensrettende Maßnahme war. Yayoi Kusama wurde 1929 in eine gut situierte, konservative Unternehmerfamilie als jüngstes und nicht wirklich erwünschtes viertes Kind in eine zu diesem Zeitpunkt schon zerrüttete Ehe geboren. Im elterlichen Betrieb wurden Blumensamen im großen Stil gezüchtet. Die bunten Saatfelder boten sich Kusama bereits in sehr jungen Jahren als erstes Motiv für Zeichnungen an. Blumen, konkreter Veilchen, waren es dann auch, die bei der erst Zehnjährigen die ersten Halluzinationen und Depersonalisierungserlebnisse auslösten. Die einzige Möglichkeit für die junge Yayoi mit ihrer beginnenden psychischen Krankheit, die damals nicht als solche diagnostiziert wurde, umzugehen, war mit Papier und Farbe: "Malen war für mich die einzige Möglichkeit, auf dieser Welt zu existieren, oder anders gesagt, war Malen eine aus der Not geborene Leidenschaft, und hatte, so primitiv und instinktiv es anfangs war, wenig mit Kunst zu tun." (S. 108)

Danach geht es wieder zurück in das New York der späten 60er Jahre, in die Zeit der sexuellen Revolution, des Vietnamkriegs und der Proteste dagegen. Kusama wird mit ihren Installationen, Performances und Happenings zu einem Fixpunkt der damaligen Avantgarde. In einer ironischen Umkehrung ihrer Kritik an der zunehmenden Kommerzialisierung der Kunst gründet sie vier Kunstunternehmen, in denen sie ihre unerschöpfliche Kreativität in Filmen, Musicals, Happenings und einem erfolgreichen Fashion Label zum Ausdruck bringt. Gleichzeitig stellt sich auch der internationale Erfolg ein, nur bei einem Besuch in Japan stößt ihre Kunst weiterhin auf die engen Grenzen, die sie dreizehn Jahre zuvor hinter sich gelassen hatte.

Die Geschichte wird mit einem Kapitel über die Freundschaften mit anderen KünstlerInnen, die sie in der New Yorker Zeit geschlossen hatte, unterbrochen. Das liest sich wie ein Who-is-Who der damaligen Kunstszene: Georgia O'Keefe hat sie mit wichtigen Kontakten zu GaleristInnen unterstützt und ihr so das Überleben ermöglicht, mit dem Surrealisten Joseph Cornell verband sie eine jahrelang andauernde platonische, aber nichtsdestotrotz intensive Beziehung, Claes Oldenburg bezog eine Zeit lang das Atelier über Kusama und mit Andy Warhol verband sie eine freundschaftliche Rivalität.

Die Intensität der New Yorker Jahre hatte für Kusama schließlich einen hohen Preis, nämlich ihre Gesundheit. Im letzten Kapitel schildert sie ihre Rückkehr nach Japan 1973, die eigentlich nur als Erholung gedacht war. Ihre psychischen Störungen sind jedoch hartnäckig, die Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten aber inzwischen weiter entwickelt. Seit 1975 lebt sie in einer offenen Klinik, in der sie die Nächte verbringt, während des Tages arbeitet sie in einem Atelier gegenüber der Klinik. In diesem letzten Kapitel schildert Kusama ihre langsame und späte Aussöhnung mit ihren Eltern und ihrem Geburtsland, auch wenn sie an der Kunstszene in Japan noch immer viel auszusetzen hat.

Insgesamt ist die Autobiographie von Kusama ein etwas durchwachsenes Leseerlebnis. Teilweise liest sich der Text wie ein langweiliger Ausstellungskatalog, der zufällig in Ich-Form geschrieben wurde. Dabei erfährt man nur sehr wenig, was die Künstlerin antreibt und bewegt. Knapp bevor man das Buch dann erschöpft aus der Hand legen will, folgen immer wieder Passagen, wo Kusama ihre existentielle Beziehung zur Kunst in knappen Worten erklären kann und man einen tiefen Einblick in den künstlerischen Schaffensprozess bekommt. Dazwischen eingestreut finden sich noch Gedichte, die die Übersetzerin auf eine harte Probe stellen. Hinter all dem steht auch immer die Person Kusama, die stellenweise durch ihren Mangel an Empathie nicht immer nur sympathisch wirkt.

Wer sich in der nicht immer linear erzählten Lebensgeschichte verirrt, bekommt im Anhang ein paar sehr nützliche Hilfsmittel beigestellt. In den Anmerkungen findet man ein paar der nicht übersetzten japanischen Begriffe näher erklärt. Eine gute Orientierungshilfe beim Lesen sind die "Lebensdaten", in denen die Übersetzerin die persönlichen und künstlerischen Stationen chronologisch bis zu den aktuell laufenden Großausstellungen in Japan und den USA. Das anschließende Personen- und Werkeregister ist gut durchdacht und verlässlich. Und Werke gibt es in dem Buch genug zu sehen. Der Verlag hat in Zusammenarbeit mit dem Kusama Studio eine Bildauswahl getroffen, die um einiges umfangreicher als im Original ist. Die Bilder folgen dem Text und sind auch im Text akribisch referenziert.

"Infinity Net" ist ein Werkstattbericht einer ungewöhnlichen bildenden Künstlerin, die in ihrer langen Schaffensperiode zahlreiche Tabus und Rekorde gebrochen hat. Man darf sich an dieser Stelle kein literarisches Meisterwerk erwarten, bekommt dafür aber einen sehr nahen Blick in die Entstehung und Entwicklung künstlerischen Ausdrucks.

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