Neil Gaiman, unser Interview in Wien 2014

Beitrag von Stefan Cernohuby | 27. Oktober 2014

Während der großen Europatour zur Präsentation seines Bestseller „Der Ozean am Ende der Straße“ (OT: “The Ocean at the End of the Lane”) machte der britische Autor Neil Gaiman auch in Wien halt. Es gelang uns einen der begehrten Interviewtermine zu ergattern. Gemeinsam mit Dr. Bernhard Praschl von der Tageszeitung Kurier unterhielt sich unser Redakteur Stefan Cernohuby mit Neil Gaiman. Der erfolgreiche Autor, unter anderem bekannt für seinen „Sandman“, „Der Sternwanderer“ und „American Gods“, nahm sich über eine halbe Stunde Zeit für das Gespräch.

THIS IS THE GERMAN TRANSLATION OF OUR INTERVIEW: HERE YOU'LL FIND THE ENGLISH ORIGINAL.

Neil Gaiman: Hallo Leute, nett euch zu treffen. Also…

Dr. Bernhard Praschl (Kurier): Wir haben uns vor ein paar Jahren anlässlich 'Stardust' (Der Sternwanderer) schon einmal in London getroffen Seither war das eine kreative Zeit für Sie.

Neil: Das war sie! (enthusiastisch). Es waren wirklich seltsame sieben Jahre. Und alles hat sich in seltsame und unerwartete Richtungen entwickelt. Hätten Sie mich damals gefragt, wo ich in sieben Jahren wäre, ich glaube ich hätte nicht damit gerechnet verheiratet zu sein - definitiv nicht mit einem Rockstar. Oder dass ich als Professor für Kunst am Bard College in Amerika tätig wäre. Das ist sehr seltsam. Ich denke auch, meine heutige Seriösität hätte mich überrascht. Ich war über zwanzig Jahre lang ein Underdog. Und sogar wenn mich Leute gemocht haben, stand ich irgendwo am Rand. Dann, 2008, habe ich die Newbery Medal und die Carnegie Medal gewonnen und plötzlich hat sich alles verändert. Da war die Generation, die mit meinen Werken aufgewachsen ist und die plötzlich die dominante Generation ist. Es waren also erstaunliche und bizarre sieben Jahre. Und definitiv, die meisten der Sachen die passiert sind, waren Dinge, die ich nicht erwartet hätte.

Stefan Cernohuby (JM): Wenn ich es richtig verstanden habe, war nicht einmal Ihr aktuelles Buch so geplant, wie es schlussendlich geworden ist Das war also auch eine gewisse Überraschung…

Neil: (lacht): Ja… ich glaube sogar, das Buch und meine Heirat sind irgendwie Teil der gleichen Ereigniskette. Amanda und ich, wir waren ungefähr ein Jahr verheiratet, da ist sie nach Australien gegangen, um eine Platte aufzunehmen. Und obwohl wir an diesem Punkt in etwa drei Jahre lang zusammen waren, war ich noch nie dabei, wenn sie voll in ihrem Arbeitsmodus war. Plötzlich war ich in Amerika, sie in Australien, sie in ihrem Arbeitsmodus… Hätte ich sie angerufen und gesagt … Ich liebe dich … ich vermisse dich …
hätte sie gesagt. „Ja, super. Okay, okay. Ich habe jetzt Bandprobe. Ich muss ein paar Songs mehr schreiben. Und wir arbeiten an der Orchestrierung.”
Da habe ich mir gedacht, ich muss etwas schreiben, als eine romantische Geste. Und ich dachte, ich schreibe ihr eine Kurzgeschichte.

Stefan: Eine etwas längere Kurzgeschichte. (lächelt)

Neil: Oh, das habe war so nicht geplant. Ich habe eine Kurzgeschichte begonnen. Und weitergeschrieben. Nach einer Woche oder so, war es dann keine Kurzgeschichte mehr. Nach drei oder vier Wochen dachte ich mir: „Okay, dann wird es eine Novelle.“ Und es war auch keine, bevor ich sie nicht fertig geschrieben hatte. Und es (das Buch) wurde auch nicht vor Amandas Rückkehr fertig. Sie war in Dallas, um das Album abzumischen. Währenddessen beendete ich den Roman und zählte die Wörter.
Und stellte fest, dass ich einen Roman geschrieben hatte. Ich war ziemlich defensiv. Ich erinnere mich, meinem Verleger und Lektor eine E-Mail geschrieben zu haben, in der ich mich entschuldigt habe, weil ich einen Roman geschrieben hatte, den niemand erwartet hätte. Ich war mir nicht sicher ob sie ihn veröffentlichen wollten. Und ich dachte überhaupt nicht, dass er sich verkaufen ließe. Er war das kleine Ding, das ich für meine Frau geschrieben habe. Ein Erwachsenenroman mit einem siebenjährigen Protagonisten. Das schien überhaupt nicht kommerziell und auch ein wenig seltsam.
Ich hätte die Geschichte definitiv nie als Roman geplant, wenn man mir gesagt hätte, ich muss einen Roman schreiben. Dann hätte ich etwas geschrieben, das zumindest eine Chance auf dem Markt hätte. Dann aber kam das Buch heraus und vertrieb Dan Brown von der Nummer eins der New York Times Bestsellerliste. Plötzlich war es der beste Verkaufschlager, den ich jemals gemacht hatte. Und wurde zum Buch des Jahres im Vereinigten Königreich. Ich weiß nicht, wie es passiert ist. Das war meine kleine, eigene Sache, die ich für Amanda gemacht habe...

Stefan: Und wie hat es ihr gefallen, da sie ja eigentlich kein so großer Fantasyfan ist?

Neil: Sie hat es geliebt. Sie hat gesagt sie liebt es, weil es ehrlich ist. Und weil es Gefühle zeigt. Emotionale Elemente sind kommen bei ihr immer sehr gut an, sie mag große Gefühle. Und Ehrlichkeit. Ich wollte ihr zeigen, wie es war ich zu sein, als ich ein kleines Kind war. In einer Welt, die ich ihr nicht mehr anders zeigen kann, weil die Häuser alle abgerissen wurden. Keiner der Leute lebt mehr dort. Auch wo die Felder waren, stehen jetzt Häuser. Ich wollte also sagen, lass mich dich mit in die Vergangenheit nehmen und ich zeige dir, wo ich aufgewachsen bin. Zeige dir, wie ich mit sieben Jahren war.

BP: Was war so speziell an den Häusern? Am Ende der Straße, wie im Buch. Oder Bauernhöfen?

Neil: Nun, in diesem Fall war es sehr wörtlich gemeint. Das war kein Akt der Vorstellung. Als ich fünf oder sechs Jahre alt war, sind wir in ein Haus an einer kleinen Straße zum Nirgendwo gezogen. Die Straße entlang war nichts. Eine halbe Meile weiter ein Bauernhof. Dann, noch eine halbe Meile weiter, noch einer. Meine Mutter hat mir erzählt, dass eines der Häuser, einer der Bauern, im Doomsday Book ständen. Dieses Buch, das William der Eroberer zusammengestellt hatte, enthielt eine Liste aller Ländereien in England, die er erobert hatte. Was bedeutet hat, dass meine Mutter mir erklären wollte, dass eines der Gutshöfe hier im Buch stand. Was ich verstanden hatte, war, dass DIESER EINE Bauernhof mit seinen roten Ziegeln bereits seit tausend Jahren hier war. Ich dachte „Wow, das ist beeindruckend“. Dann, ein paar Jahre später dachte ich an den tausend Jahre alten Bauernhof und überlegte … wäre es nicht interessant, wenn die Leute, die dort lebten, die letzten tausend Jahre dort gelebt hätten? Und diese Idee hat mich fasziniert. Später als Teenager nannte ich die Leute die Hempstocks. Von diesem Hof, diesem tausend Jahre alten Bauernhof.

Stefan:
Also waren die Bewohner schon in Ihrer Kindheit die Hempstocks?

Neil (nickt): Ja.

Stefan:
Weil es in Ihren unterschiedlichen Büchern ja eine ganze Menge unterschiedlicher Hempstocks gibt.

Neil: Nein, nein, sie haben schon lange vorher existiert…

Stefan: Da gibt es Liza, dort Daisy…

Neil: Ja, stimmt.

Stefan: Sind sie irgendwie miteinander verwandt?

Neil:
Ja, Ja! Beide, Liza und Daisy, sind ur-ur-ur-ur-ur (17 mal ur) - Urgroßnichten der dort lebenden Hempstocks.

Stefan: Okay.

Neil: Immer so viele „Urs“, aber ich habe die Idee geliebt. Da gibt es die Stelle, wo sie im Buch darüber reden, dass die Männer der Hempstocks den Hof verlassen und in die Welt ziehen, um Abenteuer zu erleben - während die Frauen daheim bleiben und die wirklich wichtigen Dinge tun.

BP: Sie haben Stephen King im Buch erwähnt.

Neil (nickt)

BP: Im Nachwort. Hat ihm das Buch gefallen?

Neil: Wollen Sie die lustigste Geschichte der Welt hören? Schön, dass Sie mich danach gefragt haben. Gerade vorhin, als ich auf der Toilette war, habe ich eine E-Mail bekommen … von Stephen King. Es hört auf mit „Hier ist meine Mailadresse, wenn du sie brauchst. Ich verfolge deine Tweeds und natürlich auch The Ocean at the End of the Lane, das ich geliebt habe. Steve.“ Also kann ich Ihre Frage jetzt beantworten. Das wäre ein „Ja“. Er hat das Buch geliebt, was mich sehr glücklich macht.
Also ja, Stephen hat es gefallen. Er war sehr präsent in mir, während ich das Buch geschrieben habe. Ich habe ein Interview mit ihm für die englischen Sunday Times gemacht. Und ich war auf der anderen Seite von Florida. Es war eine dreistündige Fahrt, dann habe ich einige Tage mit den Kings verbracht. Seine Arbeitsmoral und seine Einstellung haben mich an eines der wichtigsten Dinge erinnert: Alle Probleme können gelöst werden, indem man die Arbeit macht.

Stefan: Er ist also sehr methodisch in seiner Arbeit?

Neil: Mach einfach nur deine Schreibarbeit. Man geht sie an und tut sie. Welche Probleme auch immer auftauchen, man erledigt seinen Job. Ich liebe diese Einstellung. Alles andere bringt Ärger, mit dem man sein Leben vergeuden kann. Anrufe aus Hollywood. Oder indem man nach Wien kommt, Bücher signiert und Leute trifft. Damit kann man wirklich sein Leben vergeuden und eines Tages sieht man sich um und stellt fest, Schreiben ist die Nummer zwei. Und irgendwann ist es ein Hobby, etwas, das man macht…

Stefan: Wenn man Freizeit hat.

Neil (bestätigend): Genau, wenn man Freizeit hat. Dann kriegt man endlich die Texte fertig. Und was ich wirklich an Steve liebe ist das Schreiben. Schreiben kommt bei ihm an erster Stelle. Alles andere… (pausiert)

Stefan: Manche Autoren haben, sagen wir mal, nicht das einfachste Verhältnis zu Filmadaptionen ihrer Werke. Wie denken Sie darüber, wenn jemand einen Film machen möchte, der auf einem Ihrer Bücher basiert?

Neil: Ich versuche dabei hauptsächlich realistisch zu bleiben. Die Sache ist - man kann alles dafür geben, alles tun was man kann, um dafür zu sorgen, damit es ein guter Film wird. Irgendwann kommt jedoch ein Punkt, an dem man die Kontrolle verliert. Es ist wie bei einem riesigen Modellflugzeug. Alles was man machen kann ist, damit zu laufen und es in die Luft zu werfen. Aber in dem Moment, wo man es wirft, ist es nicht mehr in den eigenen Händen. Ich sehe das gerade bei „The Graveyard Book“. Disney hat die Rechte. Wir haben einen wirklich guten Regisseur. Wir haben noch kein Skript. Und irgendwann kommt der Punkt, an dem ich entscheiden muss, ob ich Disneys Option verlängere oder das Buch zurücknehme. Das ist die einzige Entscheidung, die ich treffen kann. Wenn Disney sagt „Wir werden das definitiv machen und wir werden die Rechte an dem Buch kaufen“, könnte es möglich sein, dass ich im März Millionen Dollars reicher bin, aber die Sache wäre komplett außerhalb meiner Kontrolle. Oder ich bekomme die Rechte im März zurück, ich weiß es nicht. Sobald Disney das Geld gezahlt hat, wird es ein toller Film, den mein Produzent ist fantastisch. Und er hält sich ans Buch. Aber letztendlich hat nicht mein Produzent die Filmrechte, sondern Disney. Das ganze ist wie eine Anhäufung seltsamer Magie. Es ist wie beim Kochen. Einer sagt: “Okay, wir haben dieses Ding hier. Wir haben dieses Buch und wir machen es mit … Hühnchen.” An einem anderen Tag würde es Rindfleisch sein. Oder Karfiol*. (*Anmerkung der Chefredakteurin: Karfiol = Blumenkohl).
Manchmal macht jemand ein wundervolles Hühnchengericht.
Dann aber geht man ins Kino, sieht einen Film und fragt sich: „Was ist hier passiert?“
Armer Chriss Paolini. Er spricht immer noch davon, was aus Eragon geworden ist. Auf der einen Seite hat man einen großen internationalen Bestseller, auf der anderen Seite einen Film, bei dem man offenbar ohne Skript zu drehen begonnen hat. Und es ist nicht so, als würde irgendwer vorhaben, einen schlechten Film zu drehen.

Stefan: Ja, natürlich.

Neil: Wissen Sie, niemand sagt: “Hey, lasst uns einen schlechten Film machen, den niemand sehen will!”
Ich hatte bisher wirklich Glück. Am meisten Glück hatte ich mit Coraline. Da habe ich Henry Sellek gefunden. Ich habe gesagt: „Ich liebe ‚Nightmare before Cristmas’. Ich möchte, dass du den Film machst.“ Er hat ihn gedreht. Ich bin Jahre lang bei ihm geblieben. Irgendwann ist ein Punkt gekommen, wo seine Option ausgelaufen ist. Und Disney wollte die Rechte. Ich habe gesagt: „Ich bleibe dabei, Henry. Ich gebe dir sechs Monate lang eine Freioption. Und wir werden das umsetzen.“ Und wir haben es gemacht. Ich habe der richtigen Person vertraut und ich liebe, was er gemacht hat. Aber das kann man nicht garantieren. Alles was man tun kann, ist wirklich so schnell wie möglich mit seinem Modellflugzeug das Feld entlang rennen. Und dann hoffen, dass man es richtig in den Wind wirft.

Stefan:
Wird das Flugzeug auch für die Serienadaption von „American Gods“ starten, oder gibt es da noch…?

Neil: Es sieht so aus. Das Flugzeug ist bei HBO abgeschmiert und abgestürzt. Hauptsächlich weil die Leute, die es bei HBO gekauft habe, dann woanders hingegangen sind. Und die neuen Leute haben schließlich gemeint: „Was ist das? Wir verstehen das nicht!“ Und mit jedem neuen Skript haben sie gemeint: „Könnten Sie nicht mehr hineinschreiben? Ein paar Infos mehr über das Buch, können Sie nicht mehr erklären? Könnten Sie die Zukunft etwas genauer darstellen? Wir kapieren das nicht.” Naja, ihr habt das nicht gekauft. Die Leute, die es gekauft haben, haben es verstanden. Vertraut ihnen.
Die Rechte kamen zu mir zurück und wurden sofort von einer Firma namens Freemantle Media gekauft. Freemantle heuerten Brian Fuller an, der „Hannibal“ macht. Und weil ich die HBO-Skripte geschrieben oder mitgeschrieben habe, konnte ich den Plot für den Pilot für niemand anderen schreiben. HBO könnte kommen und sagen, ich hätte etwas gestohlen, eine Zeile Dialog verwendet. Sogar Dialoge, die so im Buch stehen.
Aber wir haben Michael Green, der „Kings“ gemacht hat. Wir haben Brian Fuller, der wirklich fantastisch ist und machen es mit starz, mit einem Z. S-T-A-R-Z, die so etwas wie die Nächstgrößten nach HBO sind. Aktuell machen sie „Outlander“ und eine ganze Menge anderer Sachen. Sie wollen Geld ausgeben und es richtig machen.

Stefan: Sie haben eine Menge unterschiedlicher Arbeiten gemacht. Sie haben natürlich Romane geschrieben, Graphic Novels, Skripts für TV-Serien wie Dr. Who. Was ist die schwierigste Aufgabe für Sie, oder ist alles einfach nur Schreiben?

Neil: Es ist alles nur Schreiben. Die Techniken, die man verwendet sind unterschiedlich. Und die Ideen sind anders. Comics sind aktuell wirklich schwer für mich. Aber Comics sind hauptsächlich deshalb so schwer, weil ich versuche Dinge zu tun, die niemals jemand zuvor gemacht hat. Vor allem Dinge, die ich nie zuvor gemacht habe, generell gesprochen, und speziell auch noch Dinge, die niemand anders je getan hat. Ich bin bestimmt nicht schnell. Weil ich mir sage, dass ich mich nicht wiederholen will. Weil ich nicht will, dass jemand das in der gleichen Art wie ich angreift und dann sagt: „Mein Gott, das hab ich doch alles schon gelesen!“
Ich möchte alle an Orte führen, die sie noch nicht gesehen haben. Ich möchte alle in jeder Ausgabe einmal „WOW!“ sagen lassen. Wenn ich das in jedem Werk einmal schaffe, dann mache ich meinen Job richtig. Ich habe Glück, weil ich mit J. H. Williams arbeite, der sowieso alle Leute beeindruckt. Also denke ich, Comics sind vermutlich die härteste Arbeit für mich. Aber jedes Genre hat seine Aufs und Abs. Derzeit begeistere ich mich dafür, fürs Theater zu schreiben, weil ich das noch nie gemacht habe. Und ich mag die Idee, an Orte zu gelangen, an denen ich noch nie gewesen bin.

Stefan: Also gehen Sie gerne vorwärts und probieren neue Dinge. Sie planen nicht, sagen wir in naher Zukunft, in eines der Universen, die sie schon entdeckt oder erschaffen haben, zurückzukehren?

Neil:
Oh, ich plane immer, wieder zurückzukehren. Und ich bin sicher ich werde! Mein Problem ist, dass ich dazu neige mich ablenken zu lassen. Ablenken insofern, dass ich auf der einen Seite etwas habe, dem ich schon einige Jahre meines Lebens gewidmet habe. Ich weiß, wie ich es machen muss, ich habe diese Arbeit gelernt. Aber auf der anderen Seite gibt es etwas, das ich noch nicht gemacht habe, um das sich niemand kümmert und für das sich niemand interessiert. Genau darauf stürze ich mich dann.
Ich habe viel Glück gehabt. Meistens. Manchmal funktioniert es, und zwar toll. Wir haben vorher über „Ocean“ geredet und seine Eignung als kommerziellen Roman. Ich habe das nicht erwartet. Ich dachte, es wäre eines dieser netten kleinen Bücher, die Verlage herausbringen. Die sie nur veröffentlichen, um den Autor bei Laune zu halten. Und ich dachte, das könnte vielleicht ein Lieblingsbuch von ein paar wenigen Leuten werden. Ich habe es nie als kommerzielles Buch gesehen. Ich dachte, es wäre quasi „Ein Buch zwischen den erfolgreichen Büchern“. „The Graveyard Book“ war ein riesiger Bestseller und ich dachte, der nächste Roman nach „Ocean “würde wieder einer dieser dicken Wälzer…

Stefan: Können Sie uns schon verraten, worum es in diesem nächsten Buch gehen wird oder ist das noch…?

Neil: Noch nicht, weil ich es nicht zu viel verraten möchte. Aber es wird ein dickes Buch sein. Ich dachte, es würde das kleine Buch dazwischen sein. Ich lag falsch.

BP: Sie sind auch sehr aktiv auf Twitter, habe ich gesehen.

Neil: Yup.

BP:
Sie sind auch sehr engagiert, wenn es um soziale Aspekte oder Fragen geht. Sie haben mit Flüchtlingen aus Syrien geredet.

Neil: Ja. Tatsächlich bin ich sehr stolz darauf, dass heute ein Film von mir in Syrien online gegangen ist. Diesen muss ich jetzt um die Welt schicken. Ich tue einfach etwas, das Leute sehen, beobachten und erleben könnten. Um zu zeigen wie es für mich war. Wie meine Erfahrungen waren - in komprimierter Form.

BP: Sie waren in Syrien?

Neil:
Ich war in Jordanien, in den Flüchtlingslagern. Man würde mich nicht nach Syrien gehen lassen. Man mag mich lieber lebend. Ich habe den Vorteil, ein Megaphon zu haben. Ich habe nicht den Kopf eines Charles Dickens oder meines Freundes Richard Curtis. Wenn diese sagen „Das ist ein himmelschreiender soziales Problem!“, werde ich ein wenig Drama darum herum schreiben. Ich bringe Leute dazu, sich zu engagieren. Und ich glaube, Richard Curtis’ Film „The Girl in the Café” ist eines der brillantesten Stücke, die je jemand gemacht hat. Er handelt vom G8 Treffen, und enthält ein wenig Darmatik. Jemand ändert seine Meinung. Über die Verhältnisse zwischen reichen und armen Ländern und was man mit dem Geld tun sollte. Das könnte ich nicht schreiben. Aber was ich machen kann ist sagen: „Ich habe mein Megaphon und meine Rednerplattform!“. Und ich kann mich auf sie stellen und in mein Megaphon schreien. Zwei Millionen Leute werden es auf Twitter hören. Eine halbe Million auf Facebook. Ich kann in die Welt hinausgehen und Lärm machen. Es gibt einige Sachen, an denen mir viel liegt. Bibliotheken, Zensur, Bildung, Geschichten und Flüchtlinge. Möglicherweise sind es noch einige mehr. Ich kann nicht alles tun. Aber ich kann meine Plattform und mein Megaphon nutzen um zu versuchen, etwas Gutes in der Welt zu bewirken.

BP: Das ist toll!

Neil: Danke. Ich habe festgestellt, dass ich keine andere Möglichkeit habe.. Man ist nur einmal hier, man muss versuchen, die Welt auf irgendeine Art als besseren und interessanteren Platz zu hinterlassen, als man sie vorgefunden hat. Ich nutze meine Möglichkeiten.
Aber ich bin wirklich stolz auf den kleinen Film, den wir gemacht haben. Und Amanda hat einen Klaviersoundtrack dafür geschrieben, der einfach großartig ist.

BP: Kann man den Film auf Youtube sehen?

Neil: Ja! Man kann ihn auf Youtube sehen. Jetzt ist er dort. (Zeigt einen Teil des Films auf seinem Smartphone.)
Wir haben uns entschieden, die wirklich schrecklichen und furchtbaren Alptraumgeschichten gar nicht zu verwenden. Wir haben nur eine Art…

BP: Könnte es sein, dass Sie diese Erfahrung literarisch beeinflussen wird?

Neil: Bestimmt. Ich bin sicher, das wird sie. Normalerweise erreichen mich Dinge, wie Sandkörner eine Auster. Irgendwann beginnen sie zu stören und dann beginne ich sie langsam mit einer Geschichte zu umschließen. Diese schicke ich dann zurück in die Welt. Ich bin sicher, dass die Probleme mit Flüchtlingen real bleiben, weil sie es sind. Sie verschwinden nicht einfach. Wir haben mehr Flüchtlinge weltweit, als irgendwann seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Was lächerlich ist. Unser Film sagt, dass es über drei Millionen Flüchtlinge aus Syrien gibt. Das beinhaltet nicht Menschen, die innerhalb des Landes geflüchtet sind. Das sind Menschen, welche die Grenze überquert haben. Das sind keine Leute, die einfach sagen: „Wir können nicht hier leben, lasst es uns dort probieren.“ Syrer lieben Syrien. Das ist faszinierend. Es sind keine Leute, die sagen: „Ich habe mein Land gehasst, deshalb sind wir gegangen.“ Sie sagen: „Nein, wir haben es geliebt. Wir sind so lange geblieben wie wir konnten. Ich hatte ein Leben, einen Job, ein Haus. Wir sind auch geblieben als es keinen Job und kein Leben mehr gegeben hat, als Panzer durch die Stadt gefahren sind und es kein Wasser mehr gab, keine Elektrizität …
Selbst als es kein Essen mehr gab, die Felder vermint waren und wir Hunde und Katzen essen mussten, ich Blätter aus Bäumen pflückte, um Kindern etwas zu Essen zu machen. Und das einzige Wasser aus dem Sumpf war, das wir erst setzen lassen mussten, um das schwarze Zeug herauszubekommen, um es zu kochen und zu hoffen, dass es uns nicht umbringt.“
Da kann man nur sagen: „Okay, ich verstehe warum du gegangen bist und das Haus verkauft hast.“ Manchmal ist der Schlüssel zur Eingangstür das einzige, das das die Leute mitnehmen. Und manchmal nehmen sie den Schlüssel mit und es gibt kein Haus mehr dafür, wenn sie zurückkehren.
Ja, ich bin sicher es wird in die Literatur einfließen. Eben weil es das tut.

BP:
Ich habe das Buch „Zeitoun „von Dave Eggers gelesen. Im Haupteil geht es um einen Mann aus Syrien. Er hat darüber gesprochen, dass alle Kulturen aus diesem Teil der Welt stammen.

Neil: Ja, der Fruchtbare Halbmond. Wir haben dort begonnen. Und eines der größten und traurigsten Dinge, die dort geschehen ist die monströse Zerstörung archäologischer Stätten…

Stefan: Wir würden gerne noch über dieses Thema sprechen, aber ich bekomme gerade die Information, dass wir langsam zu einem Ende kommen sollten, weil die nächsten bereits warten. Danke für das Interview!

Neil: Ich danke Ihnen!

 

Alle Photos von Michael Seirer (c).
Ein spezieller Dank geht an Ates James Sharman, für seine unschätzbare (Native-)Hilfe beim Dechiffrieren des britischen Englischs.

Neil Gaiman, unser Interview in Wien 2014