Unter der Mitternachtssonne

von Keigo Higashino
Rezension von Elisabeth Binder | 16. Dezember 2018

Unter der Mitternachtssonne

Im Englischen gibt es die Redewendung "Don't judge a book by its cover", was sich grob mit "der Schein trügt" übersetzen lässt. Im Fall von "Unter der Mitternachtssonne" sollte man diese Redewendung auf jeden Fall wörtlich nehmen. Offensichtlich muss ein Buch mit über 700 Seiten seitens des Verlags mit allen Mitteln der Marketingkunst als "Thriller" oder "Der japanische Stieg Larsson" dem Publikum schmackhaft gemacht werden. Das könnte entweder zu Enttäuschungen oder Abschreckung führen. Beides hat sich der Roman auf jeden Fall nicht verdient.

"Unter der Mitternachtssonne" erschien ursprünglich über zwei Jahre hinweg als eine Serie von Kurzgeschichten mit eindeutig autobiographischen Elementen in einem japanischen Literaturmagazin. Erst danach hat Higashino den Roman in die jetzige Form gebracht, der 1999 mit großem Erfolg in Japan erschien. Verfilmungen für TV und Kino machten das Buch noch populärer. In deutscher Übersetzung wurden Keigo Higashino mit Krimis von eher traditionellem Zuschnitt bekannt. Offensichtlich war der Erfolg hier groß genug, dass man den LeserInnen nun auch eine etwas andere Kost zutraut. Dem Verlag ist auch hoch anzurechnen, dass die Übersetzung direkt aus dem Japanischen erfolgte - und nicht etwa über den Umweg des Englischen- und dass die Übersetzung von Ursula Gräfe, die KennerInnen japanischer Literatur vor allem als Übersetzerin von Haruki Murakami bekannt sein dürfte, gemacht wurde.

Die Geschichte beginnt mit einem Mord. Im Oktober 1973 befindet sich Kommissar Junzo Sasagaki auf dem Weg nach Hause, in Vorfreude auf einen Krimi, den er an seinem freien Abend lesen wollte. Doch es kommt anders, sein Heimweg führt an einem verlassenen Gebäude vorbei, in dem kurz zuvor spielende Kinder die Leiche eines brutal ermordeten Mannes entdeckt haben. Der Kommissar kommt also seinen Pflichten nach, ohne zu ahnen, dass ihn dieser Fall die nächsten 20 Jahre beschäftigen wird. Das Opfer ist ein Pfandleiher, der eine Frau und einen zwölfjährigen Sohn namens Ryo hinterlässt. Die Ermittlungen im Umfeld des Pfandleihers ergeben zunächst ein paar vielversprechende Spuren, vor allem unter dessen Kunden. Gesucht wird auch eine Million Yen, die das Opfer kurz vor seinem gewalttätigen Ende in bar behoben hat. Es dauert ungefähr ein Jahr bis alle Spuren im Sand verlaufen und die letzte Verdächtige bei einem Unfall ums Leben kommt. Auch sie hinterlässt ein Kind, die zwölfjährige Tochter Yukiho. Der Fall wird danach endgültig zu den Akten gelegt.

An dieser Stelle hat man das erste Kapitel, also etwa ein Zehntel des Buchs gelesen, und ein Stimmungsbild vom Japan der frühen 1970er Jahre erhalten. Ryo und Yukiho, die beiden Hinterbliebenen, sind es auch, deren Leben in den folgenden Kapiteln aus der Sicht von Klassenkameraden, Studienkollegen, Freunden, Geschäftspartnern oder Lebensgefährten geschildert werden. Man erfährt also nicht direkt, welche Folgen der Mord auf das Innenleben der beiden Kinder hatte. Es wird allerdings schnell klar, dass sie nicht unbeschadet davonkamen. Denn Ryo entwickelt sich zum gefühlskalten Geschäftsmann, der sich am Rand oder in der Illegalität bewegt. Yukiho hingegen nutzt ihre makellose Schönheit und den Milieuwechsel, den ihr das Leben bei der Stiefmutter ermöglichte, für einen ungeahnten sozialen Aufstieg. Der Kriminalfall wird zu guter Letzt auch noch gelöst und der erste Mord bleibt dabei auch nicht der einzige.

Das alles findet vor der mit Liebe zum Detail geschilderten Kulisse eines Japans statt, dessen wirtschaftlicher Aufstieg nicht mehr aufzuhalten ist, das technologisch in Führung geht, was schließlich in den 1980er Jahren zu der Bubble Economy führt, die Anfang der 1990er Jahre spektakulär platzt, während die starren sozialen Strukturen dem ökonomischen Tempo und den raschen technologischen Veränderungen hinterherhinken. Den Umbrüchen und Brüchen in der japanischen Gesellschaft nachzugehen, die sich in den 18 Jahren, in denen der Roman spielt, herausbildeten, sind daher das eigentlich Spannende. Aber auch die FreundInnen der konventionellen Verbrechensaufklärung kommen auf ihre Kosten. Wer sich beim Lesen auf die Kriminalgeschichte konzentriert, bekommt an vielen Stellen Hinweise und Tipps, die sich zu einem immer engmaschigeren Netz von Indizien verdichten. Dabei hilft auch das beigelegte Lesezeichen aus Karton, das die wichtigsten Personen des Romans in alphabetischer Reihenfolge und mit einer kurzen Beschreibung auflistet.

"Unter der Mitternachtssonne" bietet Krimifans alles, was einen spannenden Krimi ausmacht und gleichzeitig so viel mehr. Wer also nach einem Buch sucht, in das man richtig eintauchen kann, sollte einfach den Schutzumschlag mit den groben Verkaufsargumenten weglegen und einfach zu lesen beginnen.

Details

Bewertung

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