Das perfekte Leben des William Sidis

von Morten Brask
Rezension von Bernhard Moser | 29. Januar 2018

Das perfekte Leben des William Sidis

Was ist das „perfekte Leben“? Ist es definier- und identifizierbar, und wenn ja, ist es dann überhaupt erstrebenswert? Der dänische Historiker und Regisseur Morton Brask wagt sich an eine der wohl essentiellsten aller philosophischen Fragen, indem er das Leben des exzentrischen US-Wunderkinds William Sidis aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts revuehaft-episodisch frei nachempfindet.

In 73 zum Teil sehr kurzen Kapiteln durchwirbelt der Leser ausgehend von der Rahmenhandlung im Todesjahr des Protagonisten (1944) in 27 Rückblenden den schicksalhaften Weg des Sohnes ukrainischer Einwanderer vom Wunder- zum Sorgenkind. Von der sprichwörtlichen intellektuellen Dressur bis zur buchstäblichen Gefangenschaft, von der Einsamkeit des Genies bis zum Unverständnis und der Überforderung der Gesellschaft im Umgang mit hochbegabten Außenseitern reicht der schwindelerregende Reigen eindrucksvoller und auch verstörender Szenen. William scheitert bereits als kaum 20-Jähriger so nachhaltig, dass seine zweite Lebenshälfte in diesem Buch gänzlich unerwähnt bleibt, gerade so, als ob er nicht einmal seinem Minimalanspruch an Lebensperfektion („ das Leben zu leben, das man selbst für richtig hält“/Seite 315) auch nur einen Millimeter näher gekommen wäre. Oder doch? Jedenfalls versteht es der Autor (Regisseur!) geschickt, den Spannungsbogen in der Rahmenhandlung bis zuletzt aufrechtzuerhalten, da die möglichen Umstände von Sidis Tod beharrlich verschwiegen werden. Unfall, Suizid oder Verbrechen - welche finale Form des Scheiterns hat die historische Fügung für diese Ausnahmeerscheinung bereitgehalten?

Klassischer Entwicklungsroman mit biographisch fabuliertem Namedropping oder Fakten gestütztes populärwissenschaftliches Werk? Es wäre zu kurz gegriffen, wenn man Brasks Beschäftigung mit William Sidis (übrigens ist 2017 fast zeitgleich mit der deutschen Übersetzung aus dem Dänischen der themengleiche Roman „Das Genie“ von Klaus Cäsar Zehrer erschienen) auf eine Einordnung in eine dieser Kategorien reduzieren würde. Vielmehr handelt es sich um eine Allegorie auf das universelle menschliche Scheitern schlechthin. Bei genauerem Hinsehen spiegelt sich diese Grundidee sogar in der optischen Gestaltung der Kapitelüberschriften wider, wo chiffreartig und doch mit klarem logischen Signalwert zwischen Majuskeln und Minuskeln gewechselt wird. Zu den stärksten Passagen dieses konsequent im Präsens verfassten Romans zählt – beispielhaft für die Hilflosigkeit der gesamten Gesellschaft – der unauflösliche Konflikt der Eltern untereinander hinsichtlich der Erziehungsmetoden und der (halbherzigen) Leugnungsversuche des medialen Wunderkind-Prädikats. Etwas deplatziert und künstlich hingegen wirkt die angedeutete Liebesgeschichte mit der kommunistischen Aktivistin Martha, ebenso wie vereinzelte Versuche des Autors, die Handlung mit beiläufig eingestreuten zahlentheoretischen oder astrophysikalischen Ausführungen zu garnieren.

Das sukzessive eskalierende Ringen zwischen Normalität und Perfektion in der und um die Figur des William Sidis macht diesen Roman über weite Strecken kurzweilig und lesenswert. Überdies wird ein breites Sitten- und Gesellschaftsbild der USA des frühen 20. Jahrhunderts aufgespannt, das geprägt von einem unbändigen Fortschrittsglauben in allen Disziplinen jegliche individuelle Abweichung von diesem American Way of Life gnadenlos sanktioniert. Die Frage, ob der Leser letztlich mit dem Protagonisten sympathisiert (wie vom Autor durchaus vorgezeichnet) oder sich in aufblitzender Schadenfreude an seinem totalen Scheitern delektiert, bietet genügend Spielraum und Anreiz für eine differenzierte weiterführende Beschäftigung mit dem historischen William Sidis.

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