Die Herrschaftsformel

von Kai Schlieter
Rezension von Stefan Cernohuby | 01. Oktober 2015

Die Herrschaftsformel

Wenn ein Buch seinen Leser mit einem roten, gläsernen Auge entgegenblickt, von dem man erwartet, dass es jeden Moment „Guten Morgen, Dave“ sagt, weiß man, dass es irgendetwas mit Computern und Künstlichen Intelligenzen zu tun haben muss. „Die Herrschaftsformel“, ein Buch des investigativen Journalisten Kai Schlieter, verspricht jedoch noch weit mehr als Filmzitate, nämlich einen Blick auf den Einfluss maschineller Intelligenz, dem wir bereits ausgesetzt sind.

Nach einem Vorwort, in dem der Autor bereits seine eigene kritische Sichtweise des Themas künstliche Intelligenz darstellt und Ansichten und Statements bedeutender Männer unserer Zeit dagegen legt, beginnt das Buch mit dem ersten Kapitel und einer Diskussion zwischen Dave Bowman und HAL 9000 – einem Meilenstein der Science-Fiction. In diesem ersten Abschnitt wird mehrfach darauf hingewiesen, wie Koryphäen der Wissenschaft, unter anderem auch Stephen Hawking, vor zu weit führender Entwicklung einer Künstlichen Intelligenz oder Superintelligenz warnen. Nach einem kurzen Ausflug ins Büro eines Professor Schmidhuber, der einige Worte zur Entwicklung der aktuellen Situation und seiner eigenen Forschungen im Gebiet Neuronaler Netze verliert und auch Big Data als Nahrung von intelligenten Maschinen vorstellt, rollt das Buch das Thema von Anfang an auf. Es arbeitet die Grundlagen von selbstregulierenden Regekreisen auf, leitet über zu den Grundlagen der Kybernetik von Norbert Wiener, unternimmt einen kurzen Ausflug zu Oppenheimer, streift Turing und von Neumann und mündet in der Gründung der DARPA. Auch Forschungen, die maschinelle Logik mit Lebewesen kombinierten, sind Teil der Grundlagenexpedition. Minskys programmierte Ratten und Skinners Versuche das menschliche Verhalten maschinell zu steuern gehören ebenso zur Aufarbeitung. Mehr lernt man über den Versuch Chiles Wirtschaft in den 1960ern mit Computern steuern zu lassen. Man wird daran erinnert, wie das Internet als Ableger der ARPA-Nets entstand, wie rasend schnell sich das Datenvolumen der Welt danach erhöht hat und rasend schnell weiter wächst. Dazwischen werden immer wieder Beispiele angeführt, in welchen Bereichen die Erkenntnisse der Vergangenheit zur heutigen Verwendung maschinellen Lernens herangezogen werden. Wo Verhaltensexperimente mit Tieren an Facebook-Usern fortgesetzt werden, wo klassische Marktumfragen durch das Tracking von Amazon-Verkaufsprofilen irrelevant werden und wo die Bewegungen ganzer Bevölkerungen anhand ihrer GPS- und Mobilfunkprofilen ausgewertet und simuliert werden können. Auch die Überwachung durch Geheimdienste und militärische Operationen mit Hilfe künstlicher Intelligenz wird thematisiert. Am Ende weist der Autor darauf hin, mit diesem Buch vor allem Fragen aufwerfen zu wollen, die er selbst jedoch nicht zu beantworten vermag.

Als wir das Buch für eine Rezension anforderten, waren wir am Titel und dem Hintergrund interessiert, hatten jedoch keine Informationen über den Verfasser eingeholt. So lautete die erste große Frage, warum ein investigativer Journalist, der sich bisher mit Knastreporten und Missständen in Heimen beschäftigt hatte, sich an ein solches Thema wagte – vor allem ohne den technischen Hintergrund, der dem Soziologen und Sozialpädagogen definitiv fehlt. Ohne ihn zu fragen, können wir hier nur mutmaßen. Vermutlich war es ihm ein Anliegen, Aufmerksamkeit für unbeantwortete Fragen zu erregen und unklare Aspekte des Umgangs mit Daten und maschinellem Lernen aufzuzeigen. Die Datenrecherche und die Aufarbeitung des historischen Hintergrundes sind ihm sehr gut gelungen. Auch der Bezug, den er zwischen Forschungen von den 1930ern bis heute auf die technologischen Errungenschaften herstellt, ist meist nachvollziehbar und regt zum Nachdenken an. Ein wenig schwammig wird das Buch allerdings, wenn es um die Unterscheidung von künstlicher Intelligenz und die Existenz einer Künstlichen Intelligenz – also als Entität – geht. Das ist zwar nachvollziehbar, weil es hier nicht nur um Berührungspunkte mit Beinahe-Science-Fiction geht, sondern auch unklar ist, wie weit derartige Programme unterschiedlicher Institute, Konzerne oder Regierungen bereits fortgeschritten sind. Andererseits wäre es wichtig gewesen, um ein wenig die Unterschiede in der Autonomie von Mechanismen zu beleuchten. Denn gerade zwischen einem möglichst intelligenten Frage-Antwort-System wie IBMs Watson, einem selbstlernenden Suchalgorithmus und einem vielschichtigen neuronalen Netz, welches aufgrund vorheriger Betrachtungen logische Schlüsse ziehen kann, sind sowohl die Spezialisierungsgrade als auch die Konzeptionen sehr verschieden. Insgesamt ist das Buch daher zwar gut, um die Problematik der Thematik künstlicher Intelligenz aufzuarbeiten, für jemanden, der die Grundlagen jedoch bereits kennt, ist es eher eine Auffrischung derselben, die Anregung für Überlegungen bietet.

„Die Herrschaftsformel“ von Kai Schlieter kann man unter mehreren Gesichtspunkten betrachten. Von den Bedenken hinsichtlich der Problematik und vom technischen Standpunkt. Künstliche Intelligenz wird hinterfragt, auch wenn es nicht allzu viele Antworten gibt. Wäre das Buch auch vom technischen Standard her nur durchschnittlich, kann man dem Anliegen des Autors jedoch ein besseres Zeugnis ausstellen. Allein für die Überlegungen, die er aufwirft, wären für viele Menschen ohne technischen Hintergrund keinerlei Ansatzpunkte zum Nachdenken vorhanden – was er ändert. Insofern können wir das Buch allen ans Herz legen, die sich noch nie darüber Gedanken gemacht haben, was mit ihren Daten eigentlich passiert.

Details

  • Autor*in:
  • Verlag:
  • Erschienen:
    09/2015
  • Umfang:
    267 Seiten
  • Typ:
    Hardcover
  • ISBN 13:
    9783864891083
  • Preis (D):
    19,99 €

Bewertung

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