Boris Koch über märchenhafte Werke und Jahre

"Kinderbuch und Horror haben ziemlich viel gemeinsam"

Beitrag von Stefan Cernohuby | 11. April 2020

Schon seit vielen Jahren ist Boris Koch Lesern verschiedenster Genres ein Begriff. Er hat bereits zahlreiche zum Teil phantastische Kinder- und Jugendromane verfasst, welche die Altersgruppe von 10 bis 16 Jahren abdecken, ebenso aber auch Horrorgeschichten und Anthologien veröffentlicht sowie skurrile, phantastische Werke in den Anthologien des „Stirnhinterzimmers“ präsentiert. Auch wir kennen Boris Koch persönlich schon seit vielen Jahren und hatten schon lange ein Interview geplant. Auf der Leipziger Buchmesse 2020 sollte es nun endlich soweit sein – doch eine weltweite Pandemie machte uns kurzfristig einen Strich durch die Rechnung. Zum Glück gibt es ja digitale Kommunikation, und so konnte Boris uns direkt an der fiktiven Isach – dem großen, gefährlichen kleinen Fluss, der in „Das Kaninchenrennen“ und „Die Mondschatzjäger“ vorkommt - unsere Fragen beantworten.

Boris Koch - nachdenklich

Dieses Jahr sind bereits zwei Werke von dir erschienen. Ein Roman bei Knaur, der mehrere Märchenmotive beinhaltet, und eine Graphic Novel im Splitter Verlag, die zwar märchenhaft anmutet, aber für Erwachsene gedacht ist und explizit als „kein Märchen“ bezeichnet wird. Wie märchenhaft war 2019 für dich und wie ist es zu diesen beiden Werken gekommen?

Schreiberisch gesehen war 2019 sehr märchenhaft, ja. Aber mein restliches Leben war zum Glück weder so düster wie „Dornenthron“ noch so skurril wie „Die Schöne und die Biester“ ...
Wie es zum „Dornenthron“ gekommen ist, war recht simpel: Ich habe mich schon vor einigen Jahren in einer StirnhirnhinterZimmer-Geschichte kurz gefragt, was eigentlich mit dem Königreich geschieht, während Dornröschen und das ganze Schloss für hundert Jahre schlafen, und plötzlich hatte ich eine Idee, wie daraus ein dicker Roman werden könnte. Jennifer Jäger von Knaur konnte sich dann sofort vorstellen, diesen Roman zu drucken, die Idee rannte bei ihr wirklich offene Türen ein, und sehr, sehr schnell war ich am Schreiben.
Was den Comic „Die Schöne und die Biester“ anbelangt, müssen wir bis in das Jahr 2001 zurückgehen, als ich Horst Gotta und Dirk Schulz kennenlernte, die mir und anderen damals in einer tollen Aktion einen Kontakt zu Carlsen organisierten. Aus dem damaligen Projekt wurde leider nichts, aber Dirk, Horst und ich blieben in Kontakt. 2006 gründeten die beiden den Splitter Verlag, und beinahe hätte ich schon im ersten Jahr ein Comicalbum dort gemacht, aber die Zeichnerin musste aus privaten Gründen leider auf halbem Weg abspringen. Dirk, Host und ich blieben weiter in Kontakt, arbeiteten bei „Die Anderen“ und den ersten drei „Drachenflüsterern“ zusammen, auch das erste Cover des „Königsschlüssels“ stammt von Dirk, und ich besuchte ihren Stand auf Buchmessen regelmäßig.
Auf der Leipziger Messe 2018 lernte ich dann Frauke Berger bei ihnen kennen, die gerade am abschließenden zweiten Band ihres Comics „Grün“ arbeitete. Ihre Zeichnungen waren großartig, und sie war tatsächlich am Überlegen, beim nächsten Comic mit einem anderen Autor zusammenzuarbeiten und nicht mehr selbst zu texten. Wir tauschten Mailadressen aus, kurz darauf dann Gedanken, Texte und Skizzen, und schnell hatten wir eine Zusammenarbeit beschlossen. Und weil Frauke Lust dazu hatte, mein Märchen, das unter dem Titel „Krieg den Tauben“ bereits als Kurzgeschichte in Christian Handels Anthologie „Von Fuchsgeistern und Wunderlampen“ erschienen war, zu zeichnen, schlugen wir das Splitter vor. Dirk und Horst sagten sofort zu, eigentlich sogar, bevor wir das Exposé richtig ausformuliert hatten. Und das können wir gern als „märchenhaft“ bezeichnen, wenn du magst ...

Märchen waren ursprünglich ja auch nicht für Kinder gedacht – aber „Dornenthron“ ist es ziemlich sicher nicht. Wie viele Motive hast du in deinem Roman verarbeitet?

Das offensichtlichste Motiv ist sicher die schlafende Königstochter aus „Dornröschen“ - bei mir eine Kaisertochter, weil ich die Geschichte mit einer Fantasyvariante des untergegangenen Roms kombiniert habe. Ich denke, so viel kann man auch verraten. Ebenso zentral ist ein zweites bekanntes Märchen, das ich sehr frei übernommen habe, und das ich nicht nennen mag, um nicht zu viel zu spoilern, wie es neudeutsch heißt. Und eine wichtige Figur aus einem dritten Märchens spielt eine bedeutende Rolle, auch wenn sie bei mir ganz anders aussieht und etwas anders handelt, aktiver, und damit ganz grob in die Nähe einer bekannten Sagengestalt rückt. Das sind wohl die entscheidenden und offensichtlichen Elemente in der eigentlichen Handlung.
Im „Märchen vom letzten Kaiser“, der „Dornröschen-Variante“ in der Welt des „Dornenthrons“ sind mindestens noch „Froschkönig“ und „Schneewittchen“ in Details variiert, und ... ehrlich gesagt, ich habe die Motive nicht gezählt. Ich wollte einfach Märchen mit dem untergegangenen Rom und Goldgräbergeschichten verbinden, und dann unterwegs noch einbauen, was mir sonst noch so einfällt, von Alpträumen über dreistöckige Galgen bis zu einer gewaltigen Bibliothek auf Felsen über einem Nebelmeer ...

Boris Koch - sportlich

War von Anfang an geplant, dass der Roman als Zweiteiler erscheint?

Ich hatte von Anfang an ein Exposé für einen Zweiteiler eingereicht, ja. Nach dem zweiten Teil wird die Geschichte dann zu einem Ende gekommen sein, das alle großen aufgeworfenen Fragen beantwortet. Ob diesem Ende dann auch ein Anfang innewohnt, sodass ich noch einen weiteren Roman in den dreizehn Königreichen schreiben möchte, kann ich jetzt noch nicht ehrlich beantworten. Das weiß ich erst, wenn ich mit dem zweiten Roman fertig bin.
Aber die ursprüngliche Geschichte ist nach zwei Bänden erzählt, das steht fest. Und mir war auch wichtig, dass „Dornenthron“ selbst nicht mit einem üblen Cliffhanger endet, sondern ein Ende hat, an dem wesentliche Teilhandlungen ihren Abschluss finden.


Wie viele Hemmungen hat man als Autor eigentlich, wenn man Elemente bekannter Märchen in eine Romanhandlung integriert? Hat man im Hinterkopf eine Stimme, die leise aufschreit?

Ich weiß nicht, wie es den Kollegen geht, aber ich habe da gar keine Hemmungen. Manche sagen, ich habe in der Kunst grundsätzlich wenige Hemmungen, aber das ist ein anderes Thema (lacht) ...
Nein, im Ernst, das Tolle an Märchen ist doch, dass sie unverwüstlich sind, dass die bekanntesten von fast jedem gekannt werden, und dass sie - obwohl sie immer wieder Elemente enthalten, die mit Logik betrachtet, ziemlicher Unsinn sind - eine bestimmte Wahrheit, Träume oder Ängste, Wünsche oder allgemeingültige Vorstellungen transportieren.
Märchen zu zitieren und zu verändern, sie an ihren Knackpunkten packen oder sich ihrer symbolischen Kraft zu bedienen, ist eine spezielle Form von Kommunikation mit den Lesern. Ich kann davon ausgehen, dass sie wissen, was ich aufgreife, und präsentiere ihnen meine Variante. Es ist fast wie ein Spiel, und doch ist es mehr, weil es nicht die Beliebigkeit oder die Zufälligkeit eines Spiels hat, sondern ich ja bewusst auswähle, was ich erzähle. Mir zumindest macht das Freude, und ich hoffe, den Lesern auch. Es ist eine Auseinandersetzung mit verschiedenen Motiven, Bildern oder ganzen Geschichten, die wir von klein auf kennen.
Wichtig ist mir, dass ich mich mit den ausgewählten Märchenmotiven wirklich auseinandersetze, dass ich sie mit persönlichen Gedanken und Geschichten fülle, sodass ein eigenes Werk entsteht, das zwar in der Auseinandersetzung mit Märchen entstanden ist, aber auch für sich selbst stehen und verstanden werden kann, wenn ein Leser die Märchen doch nicht kennt.

In „Die Schöne und die Biester“ gibt es eine Protagonistin, die sich ihrer Umwelt absolut nicht unterordnet, sondern sie hauptsächlich aus ihrer Perspektive wahrnimmt und verändert. Ist das die Gegenperspektive zum König, der ja tatsächlich eine abstruse Realität gestaltet?

Nicht nur zum König, darauf kommt es mir an, auch zu den Rebellen, die sich in ihrem Widerstand ganz der Realität des Königs unterordnen, eben der Prophezeiung der betrunkenen Fee, die ja weder vom König noch von den Rebellen in Frage gestellt wird.

Boris Koch - lächelnd

Was war deine Intention beim Schreiben dieses Nicht-Märchens? Wolltest du die Absurdität eines Märchen-Szenarios auf die Spitze treiben?

Die meisten meiner Geschichten haben mehrere Intentionen ... Zentral aber ist hier wohl das Spiel mit dem Gedanken, dass die Gegenmaßnahmen gegen eine mögliche Gefahr (die Prophezeiung der betrunkenen Fee) viel katastrophalere Folgen haben, als es die Bedrohung selbst hätte - zumindest wenn man das Wohl der gesamten Bevölkerung des Landes in Betracht zieht. Doch natürlich gibt es mit den Taubenjägern Profiteure der Situation, und auch der König profitiert – zumindest für den Fall, dass die Prophezeiung tatsächlich eintreten würde ...
Und ja, ich treibe Dinge manchmal gern auf die Spitze, und das Märchenszenario gibt mir die Möglichkeit, dies „glaubhafter“ zu tun, als es in einem realistischen Setting möglich wäre. Wie eben dieser Glaube an die Prophezeiung, der zu einer Besessenheit wird. Nicht nur beim König, sondern auch bei den Rebellen.

Wir haben uns vor Jahren schon einmal darüber unterhalten. Du hattest mir gefragt, es wäre schade, dass dir bisher kein Interviewpartner eine bestimmte Frage gestellt hätte. Also wollen wir das diesmal nachholen. Du schreibst ja sowohl Kinder- und Jugendbücher, als auch Horrorgeschichten. Wie passt das zusammen?

Damals wurde ich mehrmals mit der Vorstellung konfrontiert, dass ein Autor vor allem ein Genre schreibt, bzw. zu schreiben hat. Schreibt ein SF-Autor plötzlich einen Krimi, wird in Frage gestellt, ob er das kann, weil es nicht „sein“ Genre ist. Schreibt ein Krimiautor plötzlich SF, ist es genauso. Fantasy und SF wird tendenziell eher akzeptiert, weil diese Genres grundsätzlich als verwandt gelten, ganz unabhängig von der Tatsache, dass etwa „Bladerunner“ als SF viel näher am Krimi ist als an der Fantasy, aber das ist wieder ein anderes Thema ...
Kinderbuch und Horror, so wurde mir gegenüber mehrfach geäußert, seien nun die allergegensätzlichsten Genres. Erstens bin ich der Meinung, dass die unterschiedlichsten Geschichten in einem Autor schlummern können, und somit auch die unterschiedlichsten Genres. Und zweitens haben Kinderbuch und Horror ziemlich viel gemeinsam - so wie auch Komödien und Horror, aber auch das ist ein anderes Thema …
Im Kinderbuch wird etwas eigentlich „Unmögliches“ sehr leicht akzeptiert, wie etwa Pippi Langstrumpfs unglaubliche Stärke; das Übernatürliche, Phantastische, Wunderbare wird oft leichter akzeptiert als in Belletristik für Erwachsene. Den Kindern wird nicht geglaubt, wie den Erwachsenen im Horror, die das Monster sehen.
Einer meiner liebsten Romane ist „Es“ von Stephen King, und dort sieht man perfekt, wie stimmig sich die Geschichte des Monsters mit der Geschichte der Kinder verbindet. Natürlich ist das kein Kinderbuch, doch es trifft das Abenteuergefühl von Kinderbüchern sehr gut.
Beim Schreiben ist es nun so, dass man in beiden Fällen nicht ganz an die Realität gebunden ist, dass man sie hier wie da biegen oder ganz aufbrechen kann, und damit gleichzeitig etwas über unsere Realität aussagen kann, einfach bestimmte Elemente des Lebens durch die Phantastik verdeutlichen. Die Phantasie kann über die Grenzen der Realität hinausgehen, ohne unsere Wirklichkeit, unsere Gefühle, unsere Wünsche zu verleugnen, und das mag ich.
Und natürlich gibt es auch ganz realistische Kinderbücher, und andere Herangehensweisen, dieses Individuelle ist ja das Schöne an der Kunst, aber für mich kommen die beiden zusammen.

Boris Koch - im Wasser

Eine Frage aus dem Jugendpublikum. Hast du vor noch einen weiteren „Drachenflüsterer“-Roman zu schreiben?

Ja, das habe ich grundsätzlich vor, und ich habe auch schon zwei, drei kleinere Ideen, die ich umsetzen möchte. Auch gibt es zwei Details aus früheren Bänden, die ich nochmal aufgreifen wollte. Aber im Moment schreibe ich noch an der Fortsetzung zum „Dornenthron“, und dann gibt es da noch etwas, das noch nicht spruchreif ist. Aber Ben, Aiphyron & Co spuken noch fröhlich durch meinen Kopf, und darüber möchte ich dann auch mal mit dem Verlag reden ... 

Darf man von dir 2020 noch ein weiteres Werk erwarten? Und für wann ist die Fortsetzung von „Dornenthron“ geplant?

Vor wenigen Tagen hätte ich noch ganz vergnügt geantwortet: Ja, im August erscheint bei Thienemann „Das Camp der Unbegabten“, ein humorvolles phantastisches Jugendbuch ab 12. Aber inzwischen muss ich das leider korrigieren, denn der Roman wurde wegen Corona aufgrund eines Domino-Effekts auf das Frühjahrsprogramm 2021 verschoben ...
Für das Frühjahr 2021 ist dann auch die Fortsetzung des „Dornenthrons“ geplant, an der ich aktuell schreibe, den genauen Monat kenne ich aber noch nicht. Ob sich auch daran noch etwas wegen Corona ändert, kann ich natürlich nicht sagen, aber Stand jetzt bleibt es bei dem Plan.
In dem Zusammenhang aber einfach mal gesagt: Unterstützt bitte den lokalen Buchhandel. Viele kleine Buchhandlungen versenden gerade Bücher auf Rechnung, und sie kämpfen wirklich ums Überleben. Es gibt keine Laufkundschaft, keine Touristen in den Städten, keine Spontankäufe. Wer im Mai oder Juni ein Buch verschenken will, kann es vielleicht ja jetzt schon holen, nur so als Gedanke.
Und auch Verlage und Autoren freuen sich darüber ...

Vielen Dank, lieber Boris. Wir wünschen dir viel Erfolg mit den märchenhaften Werken und drücken dir die Daumen, dass sie deine Leserschaft so überzeugen, wie sie uns begeistert haben.

 

WAS IST WAS Klima - Eiszeiten und Klimawandel
Dornenthron
Boris Koch

Knaur Verlag
Taschenbuch, 432 Seiten
ISBN: 9783426524947
Preis: 14,99 €

„Dornenthron“ ist ein neuer Erwachsenenroman von Boris Koch, in dem man nicht nur mit realen Märchen konfrontiert wird. In dem Werk gibt es zahlreiche Schicksale, denen man gespannt folgt und von denen viele ein Ende nehmen – mache zum Guten, manche zum Schlechten. Doch die Geschichte ist noch nicht zu Ende erzählt und so wird es wohl eine Fortsetzung geben, auf die man sehr gespannt sein darf. Denn es gibt noch zahlreiche Märchen, die in einer Dornenhecke hängenbleiben könnten.

Zur vollständigen Rezension
 
 

WAS IST WAS Klima - Eiszeiten und Klimawandel
Die Schöne und die Biester
Boris Koch

Splitter Verlag
Gebundene Ausgabe, 72 Seiten
ISBN: 9783962194567
Preis: 18,00 €

Ob nun Märchen oder nicht, „Die Schöne und die Biester“ ist eine märchenartig erzählte und illustrierte Geschichte von Boris Koch und Frauke Berger. Es geht nicht um des Kaisers neue Kleider, sondern um betrunkene Feen und Taubenkot. Doch auch diese Ingredienzien können, wenn richtig vermengt und dargestellt, ein überzeugendes Leseergebnis ergeben. Für alle Erwachsene, die Märchen lesen können und gleichzeitig behaupten wollen, keine zu lesen, ist das Buch bestens geeignet. Und ja, für Lügner auch.

Zur vollständigen Rezension
Boris Koch über märchenhafte Werke und Jahre