Der Kanon mechanischer Seelen

von Michael Marrak
Rezension von Stefan Cernohuby | 10. Juni 2018

Der Kanon mechanischer Seelen

Es gibt Romane, bei denen Autoren behaupten, sie wären rasch von der Hand gegangen. Da ging es sofort an Federkiel, Schreibmaschine, Computer oder Neuralinterface, und dann war das Werk in kürzester Zeit auf Papier (oder digitale Datenträger) gebannt. „Der Kanon mechanischer Seelen“ von Michael Marrak ist definitiv kein solches Werk. Denn berücksichtigt man die erste enthaltene Erzählung, hat der Roman insgesamt 25 Jahre bis zu seiner Fertigstellung benötigt.

Die Geschichte beginnt in einer fernen Zukunft, auf einer Welt, auf der nur noch sehr wenige Menschen leben – und sie leben kein Leben wie wir, sondern überdauern Jahrhunderte. Manche werden dabei beinahe zu einer Legende, so wie Ninive. Sie ist eine Wandlerin und daher in der Lage, unbelebter Materie Leben einzuhauchen und dieses wieder zu nehmen. Ohne viel Kontakt zur Außenwelt lebt sie mit ihrem unzuverlässigen Rucksack, einer kaputten Standuhr mit Namen Clogger, einem Ofen namens Guss und zahlreichen anderen beseelten Erzeugnissen längst vergangener Zeiten. Bis sich die Dinge ändern, beseelte Kreaturen durch ihr Gebiet pflügen, ihr ein sehr alter Bekannter einen Besuch abstattet und letztendlich sogar ein anderer Wandler namens Aris bei ihr auftaucht. Spätestens dann ist klar, dass nichts mehr so ist, wie es einmal war. Eine Reise beginnt, die weder linear durch die Zeit, noch durch den Raum und schon gar nicht durch Logik oder wissenschaftliches Basiswissen klar umrissen werden kann. Roboter sind nur der Anfang, beseelte Flüsse nur ein Wegabschnitt und halbverrückte Wissenschaftler wie der Monozyklop Coen Sloterdyke sind zwar wichtige Helfer auf dem Weg, aber nicht diejenigen, die das Puzzle rund um das Schicksal aller Realitäten letztendlich lösen müssen. Selbst der personifizierte Tod – liebevoll „Cutter“ genannt – oder zum Leben erweckte Stehlampen und Taucheranzüge sind nicht diejenigen, auf die es tatsächlich ankommt. Denn was in diesem Roman im Zentrum steht, ist die Geschichte.

Jeder Leser muss sich hier auf 724 Seiten mit mehr exotischen Begriffen auseinandersetzen, als in so mancher Space-Opera. Manche davon muten phantastisch an, doch gerade Kenner von Science-Fiction sind über die Jahre mit ihnen aufgewachsen (oder alt geworden) und erschauern wohlig, wenn von diametral levitierenden Chronoversen, Kausalknotenpunkten, Somnambulisten und Meridianen morph’scher Transzendenz die Rede ist. Und spätestens ab dem Eingreifen von Sloterdyke wird das Werk auch für alle Liebhaber von Hard-SF zu etwas Besonderem. Hier ist so viel vom Lebenswerk des Autors mit eingeflossen, dass das über 25 Jahre entstandene Werk definitiv unterschiedliche Schaffensperioden widerspiegelt. Das Gesamtbild bringt aber gleichzeitig derartig kontroverse Themen zum Ausdruck, dass man als Leser vor lauter Zeit-, Realitäts- und Trinitäts-Realitätssprüngen nicht immer weiß wo oben und unten ist. Etwas, was durchaus gewollt und auch gelungen ist. Denn allen Katastrophen, Gefahren und Verwirrungen zum Trotz schreitet die Handlung voran und die kuriosen Charaktere tragen das ihre bei, um die Geschichte in Richtung der Klimax weiterzutreiben – allen Irrungen, Wirrungen und Fehlversuchen zum Trotz. Wer Michael Marrak kennt und schätzt, hat ohnehin schon länger auf das Werk gewartet, zu dem er bei Facebook ein sehr ausführliches Projekttagebuch geführt hat. Für die, die Michael Marrak nur vom Namen her kennen, ist „Der Kanon mechanischer Seelen“ ein besonderes Werk. Obwohl es natürlich in der Zukunft angesiedelt und technisch ist, bedient es sich vieler anderer phantastischer Elemente, die nicht reine Science-Fiction sind. Aber eben ein reiner Marrak, der sich und sein Werk trotz aller Epik nicht zu ernst nimmt. Kein Wunder also, dass das Werk 2018 bereits den Seraph und auch den Kurd-Laßwitz-Preis für den besten Roman gewonnen hat. Weitere Preise sind durchaus denkbar.

„Der Kanon mechanischer Seelen“ ist ein alles andere als konventioneller Science-Fiction-Roman. Das Buch enthält eine Mischung vieler Erzählelemente und verwendet viele Elemente der Phantastik als Mittel, um die skurrilen Charaktere in einer absonderlichen Zukunft mit zunehmenden Herausforderungen zu konfrontieren. Denn natürlich gibt es eine gewaltige Bedrohung, die abgewendet werden muss. Da sich das Werk trotz aller Größe selbst nicht zu ernst nimmt, ist der „Kanon“ selbstredend eine absolute Empfehlung für alle Liebhaber des Genres.

Details

Bewertung

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