Der blinde Fotograf


Eine Autobiografie
von Hannes Wallrafen
Rezension von Michael Seirer | 12. August 2019

Der blinde Fotograf

Wie fühlt es sich an, wenn man als 50-jähriger erblindet? Was bedeutet es für jemanden, der seinen Lebensunterhalt als Fotograf bestreitet? Immerhin ist in dem Fall das Sehen der wohl am stärksten ausgeprägte Sinn. Hannes Wallrafen erblindete im Alter von 53 Jahren und kann auf einen langjährigen Fundus von visuellen Eindrücken und Erinnerungen zurückgreifen.

„Der blinde Fotograf“ ist wie eine Biographie geschrieben und erzählt die Lebensgeschichte des Autors in Ich-Form. Er erzählt uns von seinen Jugendjahren im Nachkriegsdeutschland, seinen Erlebnissen in Mönchengladbach, Berlin und Amsterdam. Selbstreflektierend beschreibt er seine Entwicklung als Dokumentarfotograf und seine immer stärker werdende Unzufriedenheit mit dem immer wiederkehrenden Vorgehen dabei. So veränderte er seinen Ansatz und wendete sich der künstlerischen Fotografie und dem bewussten Inszenieren von Konzepten in Form von Bildern zu. Ziemlich abrupt veränderte sich sein Leben, als bei ihm eine erblich bedingte Krankheit diagnostiziert wurde. Rapide verschlechterte sich sein visueller Sinn bis er nur noch über … Prozent Sehleistung verfügte und damit praktisch auf beiden Augen blind war. Besonders ungewöhnlich ist, dass er die Krankheit erst sehr spät bekommen hat.

Realistisch und oft beklemmend beschreibt er, wie sich die Welt für ihn plötzlich ohne Augenlicht darstellt, wie er sich aufgrund des Klanges der Stimme seines Gegenüber ein visuelles Bild erfindet, welches zur Stimme passen könnte und wie alltägliche Handlungen plötzlich schwer zu realisieren sind.

Ohne visuelle Eindrücke beginnt Wallraf sich stärker auf andere Sinne zu konzentrieren und arbeitet aktiv in der Community als Organisator von Audio-Tagen und in seiner Stiftung “GIZ - Geluid in Zicht”.  Er entwickelt beispielsweise ein Audio-Modell vom Olenarsaal und der Statenpassage in Den Haag. Dieses Miniaturmodell ist ein Architekturmodell, welches durch Hände erfassbar ist. Normalerweise sind Architekturmodelle nicht zum Anfassen gedacht. Je nach Berührung erklärt eine Stimme den Abschnitt des Gebäudeteils.

Er realisiert Projekte zum Aufzeichnen von Geräuschkulissen und überlagert mehrere davon, wobei neue Eindrücke entstehen, die mehr sind als die einzelnen Tonspuren. Dies ist auch eine Parallele zu seinen Bildern, hier ging er ähnlich vor.

Sehr aufschlussreich ist das Kapitel mit dem Gespräch mit seinem Fotografenfreund Taco Anema: Wann drückt man als Fotograf bei Portraits den Auslöser? Und wieviel sagt das über den Fotografen aus? Können Fotografien auch in fremden Kulturkreisen verstanden werden? Kann man ein Foto verstehen, ohne die Absicht des Fotografen zu kennen? Im Grunde ist Fotografie für Wallfrafen nur ein Mittel, die Welt besser kennenzulernen.

Natürlich erzählt der Autor auch von Tagen der Niedergeschlagenheit, dem Verzweifeln an einfachsten Tätigkeiten und den Schwierigkeiten im Alltag. Trotzdem schafft er es, sein Leben neu zu organisieren und unter den geänderten Bedingungen weiter zu führen.

Der Leser wird in “Der blinde Fotograf” in eine Welt mitgenommen, die er eigentlich gut kennt. Von Routine erdrückt, absolviert man tägliche Erledigungen im Blindflug (!) und bekommt durch das Buch einen Eindruck, wie sich fast alles ändert, wenn der visuelle Sinn plötzlich fehlt. Es zeigt aber auch, wie man trotz dieser Einschränkung neue Projekte realisieren kann und dadurch das Leben im Griff haben kann. In einer Welt, in welcher der visuelle Sinn besonders wichtig ist - insbesondere beispielsweise im Social Media Bereich - zeigt das Buch, dass es möglich ist auch als Fotograf mit Blindheit umzugehen und wie wichtig gute Gespräche mit Freunden sind.

Details

  • Autor*in:
  • Originaltitel:
    De blinde fotograf. Leven en werk van Hannes Wallrafen
  • Genre:
  • Sprache:
    Deutsch
  • Erschienen:
    03/2019
  • Umfang:
    320 Seiten
  • Typ:
    Hardcover
  • ISBN 13:
    9783772530111
  • Preis (D):
    25,00 €

Bewertung

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