Straße 816


Eine Wanderung in Polen
von Michal Ksiazek
Rezension von Manfred Weiss | 25. März 2018

Straße 816

Wenn ein Buch nach einer Straße benannt ist, aber sich am Titelbild ein Fluss und eine unberührte Aulandschaft zu sehen sind, dann weiß man schon, dass hier vermutlich Platz ist für mehr. Und so ist es auch mit “Straße 816”.

In “Straße 816” erzählt Michal Ksiazek vom Bug, dem Grenzfluss zwischen Polen, der Ukraine und Weißrussland. Und von der Straße 816, die dem Bug mehr oder weniger folgt. Der Reisebericht handelt von den Vögeln in den Wäldern, oder viel mehr Urwäldern entlang des Weges. Und sie handelt von den wenigen Menschen, die er entlang der Straße trifft, dem Aufeinandertreffen von orthodoxem und katholischem Glauben, von verfallenen Friedhöfen, Autobusbahnhöfen und dem Leben und Sterben entlang der Straße.

Momentaufnahmen mit Spechten

Wie schon der Klappentext des Buches betont, ist “Straße 816” keine Reisereportage im herkömmlichen Sinn, sondern mehr eine Aufeinanderfolge von Betrachtungen. Der Untertitel “Eine Wanderung in Polen” ist einerseits richtig, andererseits aber auch trügerisch, weil das Wandern zwar vorkommt, aber doch fast im Hintergrund bleibt.
Die Sprache der Reportage ist weit weg von jener in üblichen Reiseberichten, die Impression steht klar im Vordergrund. Gepaart mit einer klaren und ebenso feinfühligen Übersetzung finden sich bildreiche Darstellungen, wie etwa “Ich erwischte ein Zimmer mit Blick auf die Dunkelheit und auf einen Lichtschein.”, die mehr über das Erfahrene erzählen als eine genaue Beschreibung von Unterbringung, Umgebung, Gerüchen und allzu vielen Details es je könnten.
Das Buch handelt vor allem von Vögeln, von Bäumen und Wäldern, aber auch anderes Getier taucht auf, findet Beachtung, wie etwa die Geschichte der asiatischen und europäischen Igel. Nur erwähnt, nicht ausgeführt, aber doch interessant.
Die Reportage ist in zahlreiche kurze Kapitel, die wie Momentaufnahmen sind, unterteilt. Manchmal ist der Inhalt nur eine kurze Betrachtung, wie etwa über die Bedeutung von Nähe, manchmal erzählt Ksiazek ausführlich von seinen ornithologischen Beobachtungen, von all den verschiedenen Arten an Spechten, die in den Wäldern wohnen und wie man sie an ihrem Klopfen schon am Geräusch, das sie dabei erzeugen unterscheiden kann.

Im Urwald

Auf dem langen Weg ist auch Zeit etwas über Polen zu lernen, aber ebenso über Weißrussland und die Ukraine und ihr Aufeinandertreffen entlang des Flusses Bug und entlang der Straße 816 und all der anderen Straßen, die in sie münden und von ihr abzweigen.
Man erfährt auch ein wenig von der Sprache. Dass etwa “puszcza” im Polnischen Urwald bedeutet und “pustka” hingegen Leere.
Ob all der Eindrücke, Betrachtungen, des Regens, des Drecks der Straße, ist man letztlich froh, wenn der Autor in der Puszcza Bialowieska, dem Urwald von Bialowieska ankommt und sich auf den letzten Seiten in der Ruhe des Waldes befindet und von seiner Suche in den Fichtenwäldern nach dem Dendrocopos leucotos, dem Weißrückenspecht berichtet.
Am Ende des Buches bleibt die Straße 816 allerdings mehr ein Sinnbild als eine reale Straße, die Wanderung mehr eine poetische Reise als eine nachvollziehbare Überwindung von Distanz. Nirgends wird Praktisches erwähnt. Weder wie lange die Straße 816 ist, noch finden sich Ratschläge wie man sich einer Reise in die Urwälder an der Grenze Polens am besten annähern könnte. Aber doch weiß man, dass sie schön sein müssen, diese Wälder, wild und unberührt.

“Straße 816” von Michal Ksiazek ist ein Buch für alle, die gerne von der Natur lesen. Es ist eine lebendige und poetische Liebeserklärung an die Wälder im Osten Polens, fein geschrieben und hervorragend übersetzt. Es ist allerdings kein Buch für Leser, die eine Anleitung suchen, Tipps oder Reiseratschläge. Nichts liegt dem Buch ferner. Aber doch vermittelt es eine Sehnsucht nach den Wäldern und der rauen Urtümlichkeit, die sie unverändert ausstrahlen und nach der artenreichen Fauna, die immer noch in ihnen zu finden ist.

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