The next Big Thing


Albtraum Start-up-Szene – ein Undercoverbericht
von Sam Gregson
Rezension von Elisabeth Binder | 18. Juni 2019

The next Big Thing

Bei dem Untertitel "Undercoverbericht" fallen älteren Semestern Günter Wallraffs engagierte Reportagen ein, die ab Mitte der 1960er Jahre erschienen. Während Wallraff gezielt daran ging, Missstände in Unternehmen aufzudecken, geriet der unter dem Pseudonym Sam Gregson schreibende 30-jährige Brite unfreiwillig in die Rolle des "Aufdeckers". In "The Next Big Thing" berichtet Gregson über seine Erlebnisse aus dreieinhalb Jahren in zwei Berliner Startups. Die eigenen Erfahrungen nutzt er vor allem auch, um ausführlich über die schöne, neue Arbeitswelt der Start-Ups und übergeordnete gesellschafts- und wirtschaftspolitischer Entwicklungen nachzudenken.

Sam Gregson ist ein Kind der Finanzkrise 2008. Gerade als er seinen Studienabschluss in Geschichte macht, sind die Jobaussichten für frische Absolventen miserabel. Über ein Praktikum bei einer Werbeagentur gelangt er an einen Vollzeitjob in London. Knapp fünf Jahre arbeitet er in London, die Tage waren lang, der Job aber immer weniger interessant. Ein Freund erzählt ihm über sein aufregendes Leben in Berlin und kurzerhand wirft Gregson alle Unsicherheiten und Zukunftssorgen über Bord und bucht einen Flug nach Deutschland, auf der Suche nach mehr Freiheit und Spaß an der Arbeit. Durch seine Kontakte kann er sich in Berlin schnell einleben, belegt Deutschkurse und begibt sich dann auf die Suche nach einem Job in einem Start-up. Bereits während der Jobsuche wird Gregson stutzig. Bei einem Vorstellungstermin bekommt er die Aufgabe gestellt, einen PR Text zu verfassen. Wenig später liest er den Text fast unverändert auf der Homepage des Unternehmens. Er landet schließlich bei einem anderen Start-up im Marketing/PR. Allerdings bleibt die Freiheit, die er sich von der Arbeit in einem Start-up erhoffte, auch dort in weite Ferne gerückt. Es gibt zwar weniger (altmodische) Hierarchien und starre Konventionen, aber auf die Ausbeutung der Arbeitskraft wird seitens der Gründer / Investoren doch nicht gerne verzichtet. Sie wird einfach nur mit dem entsprechenden verbalen Hype hinterlegt und ganz uninnovativ in Richtung Selbstausbeutung optimiert. Auch wenn es darum geht, das Produkt, meist eine Software, zu verkaufen, verlassen sich viele Start-ups auf Bewährtes, nämlich auf die Überredungskünste der Vertriebler. Die haben zwar dann firmenintern keinen guten Ruf, aber helfen dem Unternehmen hoffentlich das angestrebte Ziel zu erreichen, nämlich durch einen Verkauf ordentlich Geld in die Kassen der Investoren und Gründer hereinzuspülen.

Dass Start-ups ein gewaltiges Ausmaß an Selbstvermarktung benötigen, um überhaupt am Radar der von Investoren aufzutauchen, mag jetzt nicht überraschen, die Details hingegen, die Gregson beschreibt sind allerdings haarsträubend. Dazu gehören beispielsweise frei erfundene Gründergeschichten, die sich meist um zwei beste Freunde aus Schul- oder Universitätstagen drehen. Die von den Investoren durchaus eingeforderten aufgeblähten Selbstdarstellungen haben durchaus die Tendenz zur Verselbstständigung. Die Egos von Firmengründern werden zu einer veritablen Innovationsbremse. Sam Gregson schildert eindrücklich, dass er rückblickend betrachtet, in den Start-ups eigentlich nur sehr wenig an Kenntnissen und Erfahrungen dazugewinnen konnte, außer der Fähigkeit, die Wünsche und Anliegen der CEOs, und seien sie auch noch so absurd, zu antizipieren und vor allem zu akzeptieren. In seinem Fall bedeutete das einerseits die stete Vernichtung seiner Arbeitsergebnisse und andererseits eine abwendbare Überforderung, die im Burnout endete. Dazu kamen noch ein endemischer Sexismus und teilweise Rassismus im Start-up Milieu, die dem Autor den Arbeitsplatz zusätzlich vergällten und schließlich zu seinem Ausstieg führten.

Obwohl seine Erfahrungen in den Start-ups den Autor um seinen jugendlichen Enthusiasmus gebracht haben, endet das Buch mit einer positiven Note. Gregson sieht durchaus das innovative und kreative Potential, das in Start-ups stecken kann, wenn soziale Verantwortung für das Produkt und für die Leute, die das Produkt erzeugen, von Gründern und Investoren ernst genommen wird.

Gregson hat das Buch auf Englisch geschrieben, auch wenn er sich in seinen Jahren in Berlin gute Deutschkenntnisse aneignen konnte. Die Übersetzung ist leidlich gut, hätte aber an manchen Stellen noch ein gründlicheres Lektorat erfordert. Ähnliches gilt auch für die Länge des Buchs. Worum es dem Autor wirklich geht, nämlich dass Start-ups nur dann ihr volles innovatives und wirtschaftliches Potential entwickeln können, wenn gleichzeitig sozialstaatliche Errungenschaften abgeschafft werden, ist bereits auf Seite 13 klar. Spätestens nach den ersten 200 Seiten haben LeserInnen schon verstanden, wie groß die Lücke zwischen Schein und Sein ist.

Auch wenn sich der Buchtitel ins Sensationelle neigt, sind Sam Gregsons Memoiren über Start-ups Made in Germany eine gelungene Reflexion und kritische Würdigung eines Phänomens, über das sonst nur in atemloser Euphorie berichtet wird. Es bleibt nur zu hoffen, dass Sam Gregson auch für seine Generation spricht und nicht die Ausnahme bleibt.

Details

  • Autor*in:
  • Verlag:
  • Genre:
  • Sprache:
    Deutsch
  • Erschienen:
    04/2019
  • Umfang:
    416 Seiten
  • Typ:
    Taschenbuch
  • ISBN 13:
    9783710900402
  • Preis (D):
    18 €

Bewertung

  • Gesamt:
  • Spannung:
  • Anspruch:
  • Gewalt:

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