Alles Inklusive


Aus dem Leben mit meiner behinderten Tochter
von Mareice Kaiser
Rezension von Stefan Cernohuby | 27. Juni 2017

Alles Inklusive

Es gibt Themen, die man lieber vermeidet – sei es als werdende Eltern, sei es als Eltern. Eines davon sind Erzählungen über Kinder mit Behinderungen, ganz besonders wenn diese wahren Begebenheiten beschreiben. Vielleicht möchte man in dieser Hinsicht seine Komfortzone nicht verlassen, wenn man es vermeiden kann. Nun hat uns allerdings ein Rezensionsmuster erreicht, aufgrund dessen wir uns mit „Alles Inklusive – Aus dem Leben mit meiner behinderten Tochter“ von Mareice Kaiser auseinandergesetzt haben. Wie es uns damit ergangen ist? Lest selbst.

Geschichten, die richtig durchgeplant sind, beginnen am Anfang. Geschichten, die einfach passieren, beginnen davor. In diesem Fall ist es die 36. Schwangerschaftswoche von Mareice Kaiser, in der ihr Gynäkologe gemeint hat, dass etwas mit ihrem Baby nicht stimmen könnte, weswegen sie sich im Krankenhaus zur Untersuchung befindet – ergebnislos. Ja, das Kind scheint etwas klein zu sein, aber das habe nichts zu bedeuten. Als vor der Geburt nur wenig Fruchtwasser vorhanden ist, wird die Geburt eingeleitet, die Wehen lassen aber trotzdem lange auf sich warten. Dann passiert es, doch das Kind wird ihr von den Ärzten gleich abgenommen. „Mehrere Fehlbildungen“ habe es, wird ihr gesagt. Und damit beginnt ein längerer Leidensweg, denn neben angewachsenen Ohren und einem bei der Geburt gebrochenen Arm gibt es Probleme mit dem Magen, dem Darm und mit der Atmung. Die ersten Monate sind ein Spießrutenlauf zwischen Behörden und Krankenhaus, bei denen immer höchste Gefahr besteht, dass die kleine Greta stirbt. Es geht um künstliche Darmausgänge, dann operativ zu korrigierende Darmerkrankungen, bis sich letztendlich ein sehr seltener vererblicher chromosomaler Defekt herausstellt, der in einem früheren Stadium mit konventioneller Vorsorge nicht diagnostizierbar gewesen wäre. Und im ganzen Stress rund um Behandlung, das Aufgeben des Berufs ihres Mannes um für ihre Tochter da zu sein, kommt mit Momo auch noch ein zweites Kind zur Welt, dieses aber gesund. Die weiteren Kapitel beschreiben eine Familie an der Grenze ihrer Kraft, auf der Suche nach Betreuung, Kita-Plätzen, und Inklusion – und dem Beginn eines Blogs über die beiden Kinder. Alles Inklusive, eben. Doch leider ist es eine Geschichte, die kein gutes Ende nimmt...

Beim Lesen des Buchs wird man unweigerlich von Faszination gepackt. Man liest über die Erlebnisse der Familie Kaiser und kommt nicht umhin froh zu sein, dass man nicht in der gleichen Lage ist. Denn trotz aller Scherereien, Problemen und Krankenhausaufenthalten die jede Familie über kurz oder lang erlebt, ist es etwas völlig anderes ein schwer behindertes Kind mit zahlreichen Einschränkungen zu betreuen, wobei die Taubheit Gretas dabei noch das geringste Problem darstellt. Das Buch erzählt viel über das Seelenleben der Eltern und deutet dabei auch an, wie viel Wut und Verzweiflung im Untergrund geschwelt haben. Ein polizeiliches Krankenhausverbot für ihren Mann, zahlreiche Auseinandersetzungen mit Ärzten über Behandlungen und nicht zuletzt mit der Krankenkasse über Rückerstattung von Kosten sind keine einfache Situation. Dennoch kann sich das Werk von Pathos nicht ganz freisprechen lassen. Es gibt mehrere Stellen wo es heißt, die Eltern gegen die Welt. Entscheidungen der Erzählerin wider die Meinung der Ärzte. Bauchgefühl gegen fachliche Aussage, Ungerechtigkeit und Inkompetenz aus Faulheit, nur gelöst durch die richtigen Entscheidungen der Familie Kaiser. Möglicherweise war der Stil dieser Passagen ein wenig für flotteren Lesefluss des Werks und der Identifikation mit den leidenden Personen angedacht, was aber nicht notwendig gewesen wäre. Denn man fühlt mit und ist am Schluss sehr traurig, als man liest, dass die enthaltene Zukunftsvision für eine weitere Entwicklung von Greta eine Vision bleibt, da diese direkt nach der Fertigstellung des Buchs verstarb.

„Alles Inklusive – Aus dem Leben mit meiner behinderten Tochter“ von Mareice Kaiser ist, wie der Titel schon nahelegt, keine leichte Lektüre und auch kein Thema, mit dem man sich in der Regel beschäftigt. Es ist trotzdem eine mutige Beschreibung einer harten Lebenssituation, mit der man als Leser stets mitfühlt und vielleicht auch nahelegt, einmal über den Tellerrand der eigenen Situation hinauszublicken. Denn wie das Werk auch mehrfach erwähnt. Wenn 96 Prozent aller Babys gesund sind, muss auch irgendwer die anderen vier Prozent zur Welt bringen.

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