Die sieben letzten Tage

von Yu Hua
Rezension von Manfred Weiss | 05. Juli 2017

Die sieben letzten Tage

Mit Büchern kann man literarisch fremde Welten und fremde Kulturen entdecken. Wie wäre es etwa mit einem absurd grotesken Roman aus dem China der Gegenwart, in welchem der Hauptheld schon vor dem Beginn des Buches tot ist und das gesamte Buch damit verbringt, sich in der Welt nach dem Tod und vor dem eigenen Begräbnis zu Recht zu finden? Sieben Tage lang.

Yang Fei, der Hauptheld von „Die sieben letzten Tage“ ist ein Findelkind. Bei seiner Geburt auf der Toilette eines fahrenden Zuges fiel er durch das Toilettenloch, aber der Bahnwärter Yang Jinbiao fand ihn und zog ihn auf. Doch das ist noch nicht das Schlimmste, das Yang Fei passiert ist. Jetzt ist er nämlich tot. Bei einer Explosion in einem brennenden Restaurant ist er gestorben. Auge, Kinn, Nase, alles verrutscht und verzerrt. Und so macht er sich in der Nachwelt auf den Weg zu seiner Bestattung. Doch dabei verliert er sich in einer Welt, die bevölkert ist von Toten, manche davon Bekannte aus seinem eigenen Leben, manche Unbekannte, die ihm begegnen. Und auf seiner Reise in diesem Zwischenreich zwischen Tod und Vergehen erzählt er uns in Begegnungen und Erinnerungen die absurde Geschichte seines Lebens und Sterbens im China der Gegenwart.

Yu Hua gelingt mit “Die sieben letzten Tage” ein kleines, feines Stück Unterhaltungsliteratur. Die Geschichte, die er erzählt, ist in vieler Hinsicht so absurd, dass sie eigentlich nicht funktionieren dürfte. Wer nimmt schon Anteil an einem von einer Explosion entstellten Haupthelden, der orientierungslos durch eine gleichzeitig absurde, aber auch fast reale Totenwelt irrt? Die Handlungsstränge, die Yu Hua webt, sind jedoch so klug vernetzt, dass die Odyssee in der Zwischenwelt nie langweilig wird. Grotesk satirisch werden Bürokratie und Korruption im heutigen China ebenso dargestellt, wie das Streben und der Wunsch der Menschen nach ihrem kleinen Glück, dem sozialen Aufstieg, einem kleinen Stück Wohlstand, Unabhängigkeit. Aber so viel anders ist dieses China dann in mancher Hinsicht auch nicht zu unserer westlichen Welt.
Dabei stürzen sich Menschen wegen falscher Sehnsüchte nach Statussymbolen von Hochhäusern in den Tod, andere verkaufen eine Niere für Geld, nur um an der nachfolgenden Infektion zu sterben. Skandale werden vertuscht und selbst in der Zwischenwelt gibt es noch im Krematorium, wo die Toten auf Ihre Verbrennung warten, einen VIP-Bereich und eine Plastikstuhlklasse.
Die Sprache des Buches ist klar und einfach. Absurdes und Groteskes wechselt sich immer wieder mit traumhaft wirkenden Sequenzen ab. Skelette und gerade Verstorbene sind in der Nachwelt miteinander vereint. Der Weg zur ewigen Ruhe ist für manche auch nach dem Tod noch lang, mühsam und voller Hindernisse.
Und wenn die Geschichte gerade wieder in allzu groteske Szenen abgleitet, dann holt Yu Hua sein Publikum mit Sehnsüchten der Lebenden und Toten - etwa nach dem neuesten iPhone - wieder in die Gegenwart zurück.
Das Fantastische vermischt sich dabei auch immer wieder mit tragisch traurigen Momenten. Etwa wenn der kindliche Yang Fei von seinem Ziehvater ausgesetzt wird, damit ihn ein Waisenhaus finden und aufnehmen möge. Dazwischen eingestreut sind immer wieder Szenen, die einem zum Schmunzeln bringen, wenn beispielsweise ein alter Mann mit Blick auf den Fernseher, wo gerade ein Lokalpolitiker die Errungenschaften der letzten Jahre anpreist, meint: “Denen glaube ich kein Wort - nicht einmal die Satzzeichen.”
Yu Hua gelingt es, das Thema seines Buches bis zum Ende konsequent durchzuhalten. Das Groteske der Szenerie nimmt aber nie überhand. Geschickt werden die Handlungsstränge aus dem Leben vor dem Tod mit dem Leben nach dem Tod verwoben. Manche Geschichten schließen sich, manche Liebende bleiben über den Tod hinaus getrennt. Beim Lesen ist man, geduldig wie Yang Fei, mit ihm auf seiner langen Reise unterwegs.
Und so braucht die Erschaffung dieser neuen Zwischenwelt letztlich auch nur sieben Tage.

“Die sieben letzten Tage” ist ein spannendes Stück chinesische Gegenwartsliteratur. Es braucht für das Lesevergnügen keine Vorkenntnisse chinesischer Geschichte, Kultur oder Politik. Trotz der grotesk und absurd anmutenden Ausgangssituation ist das Buch leicht und flüssig lesbar. Bestens geeignet für jede Leserin, jeden Leser, der sich mit Fantasie und Vorstellungskraft auf eine Reise durch eine fremde Welt begeben mag. Auch Humor, Spannung und viel Satire kommen bei der Geschichte nicht zu kurz. Am Ende bleibt fast der Wunsch, dass die Welt nach dem Tod vielleicht wirklich ein wenig so gestrickt sein mag, wie Yu Hua sie beschreibt. Was kann man mehr von einem Buch wollen, bei dem der Hauptheld schon vor dem ersten Satz gestorben ist?

Details

  • Autor*in:
  • Originaltitel:
    Di-qi tian
  • Genre:
  • Sprache:
    Deutsch
  • Erschienen:
    04/2017
  • Umfang:
    304 Seiten
  • Typ:
    Hardcover
  • ISBN 13:
    9783100021939
  • Preis (D):
    22,00 €

Bewertung

  • Gesamt:
  • Spannung:
  • Anspruch:
  • Humor:
  • Gefühl: